„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 23. Mai 2023

Schuld und Unschuld der (russischen) Kultur

Seit Putins Angriffskrieg äußern sich immer wieder Kulturschaffende zur russischen Kultur; insbesondere wenn Musikerinnen oder Musiker oder Schauspielerinnen und Schauspieler in Deutschland auftreten wollen oder aufgetreten sind. Diese Kulturschaffenden vertreten die Ansicht, daß in Zeiten eines völkerrechtswidrigen, mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergehenden Angriffskriegs die russische Kultur als eine Art ‚persona non grata‛ behandelt werden müsse. Eine besondere Äußerung, von wem auch immer, ich habe mir den Namen nicht gemerkt, ging sogar so weit, die russische Kultur, insbesondere die Literatur (Dostojewski etc.) direkt für diesen Angriffskrieg verantwortlich zu machen.

Diese besondere Art von cancel culture, in der nicht nur über einzelne kulturelle Erzeugnisse, sondern über eine ganze Kultur der Stab gebrochen wird, ist der Anlaß für meinen heutigen Blogpost. Mich erinnert das an die Situation in den 1930er Jahren in Deutschland, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, und an den zweiten Weltkrieg. Auch damals fragte sich alle Welt, wie es sein konnte, daß ein gebildetes Volk mit Schiller und Goethe im Gepäck solche Menschheitsverbrechen begehen konnte? ‒ Eine Zeitlang stand summarisch die ganze deutsche Kultur unter Verdacht.

Noch vor kurzem warf Slavoj Žižek in seinem Buch „Disparitäten“ (2016) Schiller, und mit ihm dem Neuhumanismus, einen Protofaschismus vor. Aus dieser Sicht ist es dann nicht mehr verwunderlich, daß ganz Deutschland der faschistischen Barbarei verfiel.

Obwohl ich selbst immer Kultur und Lebenswelt als ein zusammengehöriges soziales Phänomen beschreibe, muß doch zwischen ihnen ein Unterschied gemacht werden. Die Lebenswelt ist das, was wir von Geburt an in jeder Sekunde ein- und ausatmen. Sie ist es, die unser individuelles Bewußtsein hervorgebracht hat und mit jedem Atemzug immer wieder aufs Neue hervorbringt.

Aber was die Kultur betrifft, insbesondere wenn ich dabei an Kunst und Literatur denke, gibt es zwei entscheidende Metamorphosen, die sie von der Lebenswelt abheben: die Metamorphose, die die Künstlerin, der Künstler bewirkt, und die Metamorphosen, die Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer, Betrachterinnen und Betrachter bewirken. Beide Metamorphosen sind individuell und deshalb unkontrollierbar. Vielleicht unterscheidet sich der Individualisierungsgrad. Ich könnte mir vorstellen, daß die Musik am meisten auf die Masse wirkt, wie es große Musikevents vermuten lassen. Aber auch in der Musik wird die Rezeption mit zunehmender Artifizialität immer individueller.

Worauf ich hinauswill: zwar beziehen die Kulturschaffenden ihr Material immer aus der Lebenswelt; aber was sie aus dem Material machen, die kulturellen Erzeugnisse aller Art, transzendiert diese Herkunft. Und was die Konsumenten betrifft, fügen diese den kulturellen Erzeugnissen ihren eigenen Anteil hinzu. Und die Kulturschaffenden haben es nicht in der Hand, das, was aus ihrem Werk gemacht wird, zu kontrollieren.

Das gilt selbst für elementarste Lebensleistungen: Was kann Dietrich Bonhoeffer dafür, wenn er von der Querdenkerszene vereinnahmt wird, oder Sophie Scholl, wenn sich Impfgegnerinnen auf sie berufen?

Wenn also einzelne russische Künstlerinnen und Künstler wegen ihrer positiven Einstellung zu Putins Angriffskrieg boykottiert werden, kann das durchaus seine Berechtigung haben. Der Verdacht, daß ihr Werk mit ihrer Einstellung im Zusammenhang steht, ist naheliegend. Deshalb ist ein entsprechender Boykott, gewissermaßen aus mental-hygienischen Gründen, als politisches Zeichen legitim. Aber die russische Literatur insgesamt stellvertretend für die ganze russische Kultur zu canceln, ist maßlos übertrieben.

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