„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 10. März 2022

Unsere Werte und Putin

Mit Bezug auf die Maßnahmen, die von Seiten der EU und der NATO gegen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine diskutiert und beschlossen werden, ist immer von unseren Werten die Rede, die wir mit der Ukraine verteidigen müssen. Das Problem ist dabei, daß die Begriffe, mit denen wir diese Werte identifizieren, korrumpierbar sind und längst schon von Trump, Orban und nicht zuletzt von Schröder, der Putin einst als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnet hatte, korrumpiert worden sind. Orban steht für die „illiberale Demokratie“. Vor diesem Hintergrund war es für Putin in den letzten Jahren ein Leichtes, unsere Wertbegriffe in den Würgegriff zu nehmen. Den Gipfel des Sprachmißbrauchs leistete sich Putin damit, seinen Angriffskrieg mit der Verhinderung eines Genozids im Donbasbecken und mit der Notwendigkeit einer Entnazifizierung der Kiewer Regierung zu begründen.

Warum aber sind unsere Wertbegriffe überhaupt korrumpierbar? – Weil sie, jeder einzelne, mehrdeutig und deshalb zweifelhaft sind.

Nehmen wir die drei Leitbegriffe der französischen Revolution: Freiheit, Gleicheit, Brüderlichkeit. „Brüderlichkeit“ erinnert schon vom Wort her an Männerbünde. Frauen kommen darin nicht vor. Schlimmer aber ist, daß die damit gemeinte Solidarität neutral ist gegenüber ihrem Mißbrauch. Jede Räuberbande kann sie für sich in Anspruch nehmen. Letztlich behauptet die Solidarität das Primat der Gruppe über das Individuum. Es ist also notwendig, zu präzisieren, was genau mit Solidarität gemeint sein soll.

So geht es auch mit der Gleichheit. Die US-Amerikaner verstehen darunter die Gleichheit der Erfolgreichen. Wer nicht erfolgreich ist, ist selber schuld. Die Europäer verstehen darunter eher die Gleichheit der Menschenwürde und leiten daraus soziale Rechte ab.

Und die Freiheit? Als einzelnes Wort ist der Freiheitsbegriff völlig unbrauchbar. Jeder versteht etwas anderes darunter. Man behilft sich deshalb mit Sentenzen wie: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ (Rosa Luxemburg) – Ich glaube, hier kommen wir auf die richtige Spur. Denn nicht das inhaltsleere Wort „Freiheit“, sondern das Denken ist es, worauf es ankommt. Der Begriff des Denkens ist deshalb nicht korrumpierbar, weil es eine eindeutige Verhaltensweise  bezeichnet: den Gebrauch des eigenen Verstandes.

Zwar spricht Bettina Stangneth von einem „bösen Denken“. Aber böses Denken bildet nicht etwa eine mögliche Form des Denkens, sondern gar kein Denken. Böses Denken ist Denken, das sich gegen sich selbst richtet: gegen Denken, wo immer es zutage tritt. Es unterminiert den Gebrauch des eigenen Verstandes. Alles, was uns am Gebrauch des eigenen Verstandes hindert, ist das Gegenteil von Denken und nur insofern auch böses Denken.

Um auch noch diesen Punkt zu klären: wir selbst können uns am Gebrauch unseres eigenen Verstandes hindern, indem wir uns weigern zu denken. Das ist aber selbstverschuldet.

Und eigentlich sind es nur wir selbst, die uns am Selberdenken hindern können. Trotz Putin, Orban, Trump und wie sie alle heißen.

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