„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 19. November 2023

Wie erkenne ich einen Antisemiten?

Jemand erklärte, woran man einen Antisemiten erkenne. Man frage einfach, wer am Klimawandel schuld sei: Juden oder Radfahrer? Angeblich antworten 9 von 10 darauf: „Warum Radfahrer?“

Ich habe diese an einen schlechten Witz erinnernde Frage schon öfter gehört. Mir selbst hat sie noch keiner gestellt. Aber ich stelle mir vor, mir würde sie gestellt und ich hätte sie noch nie gehört und würde damit in einem Moment überrascht, in dem ich mit so einer Frage überhaupt nicht rechne.

Was würde mir als erstes durch den Kopf gehen? Ich würde wahrscheinlich denken, daß der Fragesteller mit mir ein Gespräch über Antisemitismus führen will. Aber in einem Gespräch über Antisemitismus haben Radfahrer nichts zu suchen. Meine Antwort auf diese Frage wäre also ein verwundertes: „Warum Radfahrer?“

Und schon hätte ich mich als Antisemit geoutet.

Ein ähnliches Ergebnis hätten wir, wenn in meinem Kopf vor allem das Wort ,Klimawandel‛ hängengeblieben wäre, nach dessen Verursachung, zumindest in der Version, in der ich sie kenne, gefragt wird. So aus allen meinen Gedanken herausgerissen, in denen gerade Antisemitismus überhaupt keine Rolle gespielt hatte, würde ich möglicherweise denken, daß alle Menschen mehr oder weniger schuld daran sind, am wenigsten aber die Radfahrer. Einmal innerlich bis zehn gezählt und dann noch einmal auf die Frage geschaut, hätte ich aber mit Sicherheit gemerkt, daß es sich um eine Fangfrage handelt. Wer aber tut das schon?

Auf diese Art funktionieren alle Fangfragen. Eine Frage, auf die man naiv wie auf jede einfache Frage reagiert, entpuppt sich plötzlich als Trick. Sie kann als bloßer Scherz gemeint sein oder auch auf eine nicht besonders nette Unterstellung abzielen.

Tatsächlich habe ich den Eindruck, daß ein nicht geringer Teil der derzeitigen Antisemitismusdebatte auf diesem Niveau verläuft. Diese Frage wurde in einem Interview in der heutigen DLF-Sendung von „Informationen und Musik“ ernsthaft als Antisemitismustest vorgeschlagen. Man solle sie beliebigen Menschen, wo sie gerade „stehen, sitzen oder liegen“, stellen. Aber inzwischen ist diese spezielle Fangfrage wohl allgemein so bekannt, daß sich keiner mehr von ihr überrumpeln läßt.

Wo es um etwas geht, mit dem es uns wirklich ernst ist, sollten wir deshalb auf rhetorische Tricks aller Art verzichten.

3 Kommentare:

  1. Sofern die Frage nach den Fragen ernsthaft gestellt sein sollte, könnte man auf eine Metastudie verweisen, wo solche Fragen und die Antwortalternativen mit Prozentangaben genannt sind.
    „Aber es gibt keine Antisemiten mehr“: Eine experimentelle Studie zur Kommunikationslatenz antisemitischer Einstellungen in: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Open access Published: 02 December 2010- volume 62, pages681–705 (2010)
    hier ein Link: https://link.springer.com/article/10.1007/s11577-010-0115-0 (für Hochschulangehörige kostenloser Zugriff möglich)
    In der PDF findet man auf Seite 15 eine Tabelle, aus der man die Fragen und die Reaktion der Befragten ableiten kann.
    Fragen
    I. Die Juden arbeiten mit üblen Tricks 39 23 17 11 5 5
    II. Juden haben in der Welt zu viel Einfluss... 25 24 31 9 6 5
    III. Ich finde es gut, dass wieder mehr Juden hier leben 10 7 15 31 22 15
    IV. Die jüdische Kultur muss geschützt werden 7 8 16 26 27 16
    V. Die Juden sind selbst schuld 50 18 11 12 5 4
    Die Antworten sind hier gestuft nach Zustimmung: überhaupt nicht, nicht, eher nicht, eher zustimmend, zustimmend, sehr zustimmend
    Ausführlich lauten die Fragen:
    I. Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen (Decker und Brähler 2006)
    II. Juden haben in der Welt zu viel Einfluss (Bergmann und Erb 1991b)
    III. Ich finde es gut, dass wieder mehr Juden in Deutschland leben
    IV. Die jüdische Kultur muss gegen ihre Feinde geschützt werden
    V. Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig (Heyder et al. 2005)
    Pi mal Daumen kann man aus den Antworten ableiten, dass etwa 20 bis 30 Prozent der Deutschen zum Antisemitismus neigen.

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  2. Leider kann ich die Daten hier schlecht als Tabelle anzeigen lassen. Dieser Link müsste zu einer übersichtlichen Tabelle führen: https://link.springer.com/article/10.1007/s11577-010-0115-0/tables/1

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    1. Danke für die Links!
      Bei meiner Stellungnahme geht es mir nicht um Statistik, zu der ich eine skeptische Distanz einnehme. Was immer übersehen wird, wenn es heißt: 9 von 10 antworten so und so, insbesondere wenn es sich wie in diesem Fall um eine einzelne Frage handelt, ist, daß diese Antworten nur wenig etwas über die tatsächliche Einstellung der Befragten aussagen. Es gehören immer Kontexte dazu, innere Zustände, aus denen heraus die Befragten reagieren, die in die Antworten nicht eingehen.

      Bei einem Fragesetting (Items) haben wir es mit Wahrscheinlichkeiten zu tun, die wiederum offenlassen, inwiefern sie auf Einzelne in ihren Befindlichkeiten tatsächlich zutreffen. Aber ich will die Berechtigung von solchen Statistiken nicht generell in Frage stellen.

      Der Antisemitismus in Deutschland ist tatsächlich ein Skandal, den ich hier in keiner Weise relativieren will. Mir geht es nur um die Art und Weise, wie darüber öffentlich geredet wird. Diese Frage nach Juden und Radfahrern ist einfach nur peinlich und unterstes Niveau.

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