„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 11. September 2023

Individuelle und kollektive Erinnerungsarbeit

„ ... stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft
zugleich die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv.“
(Dialektik der Aufklärung)

Nicolai Epplée, Autor von „Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo“ (2023), hat ein verdienstvolles Buch über die Schwierigkeiten und den Nutzen einer dynamischen Erinnerungsarbeit in Gesellschaften geschrieben, die eine vom Staat getragene Politik der systematisch begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinter sich haben. Dabei liegt der dramatische Ort einer solchen Erinnerungsarbeit vor allem in den Familien, in denen sich über Generationen hinweg die Folgen von Opfer- und Tätergeschichten vererben, so daß von hier aus von einer Traumatisierung der ganzen Gesellschaft gesprochen werden kann.

Subjekte der Erinnerungsarbeit sind deshalb oft Kinder oder Enkel oder wie im Falle Rußlands sogar Urenkel, die die familiäre Vergangenheit nicht zur Ruhe kommen läßt. Auch der psychologische Begriff des Traumas ist individuellen Traumabiographien entlehnt und wird für die ,kollektive‛ Erinnerungsarbeit übernommen; wobei hier nochmal zu unterscheiden ist zwischen staatlich unterstützter und anerkannter Erinnerungsarbeit einerseits und der Erinnerungsarbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Opfergemeinschaften andererseits.

Das besondere Verdienst von Epplées Buch sehe ich darin, daß es die Erinnerungsarbeit in sechs Nationen miteinander vergleicht: Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland und Japan. Dazu kommt noch Rußland, das den Anlaß für und das Zentrum von Epplées Analysen bildet. Die Einsichten, die diese vergleichenden Studien bieten, sind fruchtbar und interessant. Aber ich habe ein Problem mit der fehlenden Differenzierung der verschiedenen Kollektivbegriffe, mit denen Epplée seine Analysen sprachlich durchsetzt. Das Phänomen des Kollektivbewußtseins wird mit so unterschiedlichen Begriffen wie Schicksalsgemeinschaft (Gemeinschaft als gesellschaftlich-politische Kraft), Leidens- bzw. Opfergemeinschaft, Volksgemeinschaft, kollektives Gedächtnis, Kollektivschuld, Zivilgesellschaft etc. adressiert (vgl. Epplée 2023, S.24, 111, 116, 132, 235f., 268, 282ff., 304f. u.ö.), während das Basisphänomen, mit dem alle diese Begriffe verbunden sind, schlicht und einfach die Lebenswelt ist. Von ihr her und aus ihr erwächst diesen Begriffen ihre je spezifische Bedeutung zu.

Dennoch bleibt die lebensweltliche Genese dieser Begriffe in Epplées Buch ungeklärt. Ebenso ungeklärt bleibt deshalb auch das Verhältnis dieser Gemeinschaftsformen zu den Individuen. Wo die Individuen immer wieder als Teil eines Kollektivbewußtseins thematisiert werden, können die geschichtlich tradierten Traumata niemals ein Ende finden und setzen sich von Generation zu Generation fort. Denn nur das autonome, persönliche Urteil, das Gewissen, kann die Kette der fortlaufenden Traumatisierung, die die Generationen als Kollektivschuld miteinander verbindet, durchbrechen, wie ja auch Epplée selbst an so vielen Stellen seines Buchs an entsprechenden Beispielen aufzeigt. Immer ist die Versöhnung allererst eine persönliche, und jede und jeder Einzelne ist frei, sie zu gewähren oder zu verweigern. Was nicht gegen eine gerichtliche Aufarbeitung und auch nicht gegen staatliche Unterstützung der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit spricht!

An einigen Beispielen möchte ich meine Probleme mit den Kollektivbegriffen verdeutlichen. So beschreibt Epplée das Projekt einer „Volkserziehung“ des Heimatforschers und Historikers Jurij Dmitriev, der mit Hilfe gemeinsamer Erinnerungen „an die Vorfahren eine diffuse Menschenmasse zu einem Volk“ machen will, so daß es sich, also als Volk, den traumatisierenden Erfahrungen in und mit der Sowjetunion stellen kann. (Vgl. Epplée 2023, S.116) Zugleich soll diese kollektive Erinnerung eine „persönliche Beziehung zur Geschichte“ ermöglichen, die die Menschen weniger „leicht manipulierbar“ macht. (Vgl. ebenda) Dmitriev geht es mit der Volkserziehung darum, „die nationale Identität der Bevölkerung Russlands durch die Wiederbelebung des Familiengedächtnisses ,umzuprogrammieren‛“. (Vgl. Epplée 2023, S.117)

Dabei, so Epplée, steht diese Volkserziehung in Konkurrenz zu dem, was die russische Regierung tut, nämlich „die nationale Identität in Russland traditionell von oben“ zu programmieren. (Vgl. Epplée, S.117) Epplée problematisiert Dmitrievs Begrifflichkeit in keiner Weise, sondern anerkennt dessen Erinnerungsarbeit als zivilgesellschaftliche, also vom Staat unabhängige Initiative. Er akzeptiert also den Begriff der Umprogrammierung für eine Erinnerungsarbeit, in der es um die freie und persönliche Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Vergangenheit gehen soll, wie Epplée selbst immer wieder betont!

Weitere Textstellen befinden sich am Ende des dritten Kapitels im dritten Teil seines Buches, einem Kapitel, das Epplée mit dem Titel „Blutwäsche“ versehen hat und in dem es um die Ausweitung „der Vergangenheitsbewältigung von der individuellen und familiären Ebene auf die Gesellschaft“ geht. (Vgl. Epplée 2023, S.412) Dabei will ich jetzt gar nicht weiter auf das reichlich dürftige Argument eingehen, daß die gemeinsame Basis einer solchen gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit darin bestehe, daß sich doch eigentlich alle, Verbrecher wie Opfer, in der „Bewertung des sowjetischen Terrors“ als Verbrechen einig seien. (Vgl. Epplée 2023, S.416) Wäre es tatsächlich so, wäre vielleicht was gewonnen. Aber auch die Bewertung eines Verbrechens als Verbrechen hindert niemand daran, alle möglichen Entschuldigungen dafür zu erfinden, daß es eben historisch nötig und unvermeidbar gewesen sei.

Noch ärgerlicher finde ich aber, daß Epplée drei Zeugen für die gesellschaftliche Bedeutung persönlicher Vergangenheitsaufarbeitung zitiert, die völlig verschiedene Konzepte für ihren Gemeinschaftsbezug vertreten, ohne daß Epplée auf diesen doch eigentlich bemerkenswerten Umstand eingeht. Er faßt stattdessen seine drei Zeugen in einem nichtssagenden Fazit, in dem er seinen dritten Zeugen Péter Esterházy zitiert, zusammen: „Soweit sich von einem Mechanismus sprechen lässt, durch den der ,Versuch, seine denkbar persönlichste Angelegenheit zu bewältigen‛, ,wie nebenbei die Nation eint‛, helfen diese Zeilen vielleicht dabei, zu verstehen, wie er funktioniert.“ (Epplée 2023, S.422)

Epplée bezieht sich in diesem alles zusammenfassenden Zitat auf eine Textstelle aus „Verbesserte Ausgabe“ (2018), in der Péter Esterházy die Vergangenheit seines Vaters im kommunistischen Ungarn aufarbeitet. Esterházy geht es dabei um eine Verantwortungsübernahme auf der Basis der Repräsentativität seiner adligen Familie, die über viele Jahrhunderte eine herausragende geschichtliche Rolle in Ungarn gespielt hatte. Wenn er also schreibt: „So verwickeln wir uns in die Geschichte.“ (Zitiert nach Epplée 2023, S.421) ‒ dann ist das vor allem die weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte des Nachkommen einer Adligenfamilie.

Esterházys Verantwortung unterscheidet sich also von der Verantwortung anderer Menschen, insbesondere von der Verantwortung der beiden anderen Zeugen und von dem, was diese darunter verstehen. Der erste dieser beiden Zeugen ‒ Esterházy ist der dritte, also letzte, den Epplée in dieser Reihe aufführt ‒ ist der Litauer Tomas Venclova. Venclova nennt als Grund für seine Verantwortungsübernahme für von Litauern an Juden begangene Verbrechen seine Volkszugehörigkeit: „Wenn man ein Volk als eine große Person betrachtet ..., dann haben alle Angehörigen des betreffenden Volkes Anteil an dieser Person, die Rechtschaffenen ebenso wie die Verbrecher. Jede begangene Sünde belastet das Gewissen des ganzen Volkes und das Gewissen jedes Einzelnen.“ (Zitiert nach Epplée 2023, S.419)

Das Volk als „Person“, das Volk als „Gewissen“, „Sünde“ ‒ hier ist mit dem Gewissen nicht mehr das autonome Urteil eines Individuums gemeint, sondern wir haben es mit einer Sphäre des Heiligen zu tun. Während die anderen beiden Zeugen aus unterschiedlichen Gründen, wie noch zu zeigen sein wird, als Einzelne dastehen, die ihrem persönlichen Gewissen folgen, fällt Venclova mit seiner Motivlage aus den grundlegenden Einsichten, die Epplée in diesem Kapitel diskutiert, heraus.

Hatte Epplée zuvor herausgearbeitet, daß es einen „Unterschied im Sinn und in der Sache“ macht, wenn man von individueller und gesellschaftlicher Verantwortung spricht (vgl. Epplée 2023, S.407); und hatte er zustimmend Jennifer Teege, Enkelin eines KZ-Kommandanten, zitiert, die ihre Familiengeschichte aufgearbeitet und öffentlich gemacht hat und die bestreitet, daß es eine „genetische Schuld“ gibt und jeder Mensch für sich entscheidet, „wer und was er sein möchte“ (vgl. Epplée 2923, S.409); und hatte er selbst ausdrücklich festgehalten, daß „vor allem diejenigen“ Verantwortung übernehmen, „die an den aufzuarbeitenden Taten der Gemeinschaft den kleinsten Anteil haben“ (vgl. Epplée 2023, S.417) und dies „nur selbständig und freiwillig“ möglich sei (vgl. Epplée 2023, S.422), beruft er sich plötzlich auf einen Zeugen, der dieses entscheidende Merkmal, die individuelle Persönlichkeit, gleich auf ein ganzes Volk „als eine große Person“ ausdehnt!

Das Kapitel endet dann auch nochmal mit Epplées Hinweis auf „eine wirkliche, innerliche Blutwäsche“ (vgl. Epplée 2023, S.423), die „Vorfahren“ und „Ahnen“ in die Erinnerungsarbeit einbezieht. Also ist dann doch wohl irgendwie alles genetisch?

Das ist dann wieder ganz anders beim zweiten Zeugen, einem Polen, der zugleich Jude ist, Adam Michnik. Er begründet den Zusammenhang zwischen seiner persönlichen Verantwortung und der der polnischen Nation anders: „Ich bin Mensch von Natur und trage anderen Menschen gegenüber Verantwortung für das, was ich tue. Ich bin Pole durch Wahl und trage der Welt gegenüber Verantwortung für das Böse, was meine Landsleute getan haben. Ich trage sie aus freiem Willen, aus eigener Wahl und auf das Drängen aus den Tiefen meines Gewissens.()“ (Epplée 2023, S.420)

Verschiedenartiger kann man sich die drei Zeugen kaum vorstellen: zwanghafte Volksverbundenheit beim ersten, freier Wille und persönliches Gewissen beim zweiten, familiäre Verbundenheit und gesellschaftliche Verantwortung beim dritten. Und der Autor des Buches geht auf alle diese Unterschiede nicht ein! Der Grund dafür kann eigentlich nur die begriffliche Wüste sein, was die Problematik des Verhältnisses von Individualität und Kollektivität betrifft.

Letztlich deckt sich Epplées Vorstellung von Kollektivität sogar mit der von Stalin. Das zeigt sich an zwei Stellen: Epplée beschreibt das „Bewusstsein von Massen“ als „unmittelbare Folge“ einer historischen „Situation“. (Vgl. Epplée 2023, S.134) So erklärt er den massenpsychologischen Hang zum „starken Staat“ als historisch bedingt durch den Stalinismus. (Vgl. ebenda) Implizit gesteht Epplée dem Massenbewußtsein also zu, daß es, wäre es nicht durch den Stalinismus deformiert worden, anstelle des starken Staates die „Idee vom Wert des Individuums“ bevorzugen würde. (Vgl. ebenda) Als wäre es nicht gerade die begrifflich herauszuarbeitende Definition von Massen, immer der Autorität eines starken politischen Führers zu folgen!

Das Massenbewußtsein ist nicht von Stalin deformiert worden. Es war nicht eine unmittelbare Folge des Stalinismus. Er hat es nur benutzt. Aber das ist es eigentlich noch nicht, was Epplées Begrifflichkeit dem Stalinismus annähert. Das wird erst in einer weiteren Stelle deutlich, in der Epplée vom „staatliche(n) Monopol auf Kollektivität“ spricht (vgl. Epplée 2023, S.132) und daß der Staat zur Wahrung seines Monopols deshalb „unweigerlich“ auf „Proteste aus der Gesellschaft“ mit „Gegenveranstaltungen“ reagiert (vgl. Epplée 2023, S.133). Indem Epplée auf diese Weise staatliche und gesellschaftliche Kollektivität gegeneinanderstellt, unterstellt er der Zivilgesellschaft ein Kollektivbewußtsein. Die Zivilgesellschaft ist aber kein Kollektivbewußtsein. Die Zivilgesellschaft steht und fällt mit der Zivilcourage, und die ist immer singulär und individuell.

Nur in Kollektivbegriffen denken zu können ist wohl ein bislang unausrottbares Erbe des Sowjetkommunismus. Wenn Epplée also schreibt, daß es ihm nicht um „die Frage nach der Zugehörigkeit zu einem ,liberalen‛ oder ,etatistischen‛ Überzeugungssystem“ gehe, sondern um „psychologische Mechanismen“ (vgl. Epplée 2023, S.134), dann liegt vor dem Hintergrund von „Volkserziehung“ und „Umprogrammierung“ der Verdacht nahe, daß die angestrebte Vergangenheitsaufarbeitung in Rußland noch lange nicht richtig begonnen hat. Denn natürlich geht es um die Schaffung einer ,liberalen‛, nämlich zivilgesellschaftlich geprägten Öffentlichkeit! Und natürlich geht es, ineins mit der persönlichen Erinnerungsarbeit in den Familien, um die Überwindung eines ,etatistischen‛ Überzeugungssystems.

Erst wenn die zivilgesellschaftliche Erinnerungsarbeit mit einer erhöhten Wachsamkeit für das immer noch zirkulierende kollektivistische Gift einhergeht, können auch „psychologische Mechanismen“ zu ihrem Recht kommen. Denn Epplée liefert in seiner eigenen Arbeit als Autor eines Buchs über den „Umgang mit Staatsverbrechen“ das Beispiel dafür, wie leicht es ist, die Inhalte einer individuellen und gesellschaftlichen Traumabewältigung an kollektive und sogar völkische Manipulationsinteressen zu verlieren.

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