„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 4. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

1818, als Joseph Jacotot (1770-1840) an der Universität Löwen französische Literatur lehrte, hatte er ein Problem: weder konnte er niederländisch, noch konnten seine Studenten (damals alle männlich) französisch. Jacotot wagte ein Experiment: Er ließ seine Studenten eine zweisprachige (französisch/niederländisch) Ausgabe des „Les Aventures de Télémaque“ (Telemach) von François Salginac de la Mothe Fénelon lesen. Anschließend sollten seine Studenten einen in französisch verfaßten Aufsatz zu diesem Buch bei ihm abgeben. Sie sollten also durch die Lektüre des Buches französisch lernen.

Jacotot versprach sich nicht viel von dem Ergebnis. Die Studenten waren gleichermaßen Anfänger in der französischen Sprache wie in der französischen Literatur. Um so erstaunter war er über die durchwegs hohe Qualität der Aufsätze, sprachlich wie inhaltlich. Das war für ihn die Initialzündung für eine Unterrichtsform, die er die ‚universelle‘ nannte und die auf der These beruhte, daß ein unwissender Lehrmeister – er selbst konnte kein niederländisch und seinen Studenten deshalb auch inhaltlich nichts beibringen – seinen Studenten und, wie in Jacotos Fall, später seinen Schülerinnen in einem speziell für junge Frauen gegründeten Institut alles beibringen kann. Deshalb auch universeller Unterricht.

Der Inhalt war Nebensache. Das eigentliche Ziel des universellen Unterrichts war die Emanzipation; die Emanzipation des Verstandes bzw. der ‚Intelligenz‘. Niemand sollte sich dem Verstand eines anderen unterordnen müssen. Auch nicht im Unterricht. Gerade da nicht! Denn wo die Autorität des Lehrenden über alles steht, kann sich niemand emanzipieren.

Dabei kann man diese Emanzipation durchaus auch im späteren Sinne als Emanzipation der Frauen verstehen. Denn sie standen geradezu beispielhaft für die angebliche intellektuelle Inferiorität gegenüber den Männern: „Wie nun, wenn man von Emanzipation und Gleichheit der Intelligenzen spricht, wenn man bloß erwähnt, dass Mann und Frau dieselbe Intelligenz hätten! Ein Besucher hatte Jacotot bereits gefragt, ob die Frauen unter solchen Umständen noch hübsch wären!“ (Rancière 2007, S.207)

Der emanzipierende Effekt entsteht einzig aus der Unwissenheit des Lehrmeisters; denn diese nötigt die Schülerinnen und Schüler, sich das angestrebte Wissen selbst anzueignen. In eins damit entsteht bei ihnen ein Selbstbewußtsein, das sie sich künftig jeder Abwertung ihrer Intelligenz verweigern läßt. Und nicht nur ihrer eigenen. Denn die Intelligenz verwirklicht sich durch Mitteilung. Sie ist geradezu identisch mit der „Rede“, denn sie basiert auf der Fähigkeit, die eigene Intelligenz in der Intelligenz des anderen Menschen zu spiegeln, also mit jemand zu reden: Der emanzipierte Mensch „ist ein Liebhaber der Rede, wie der schlaue Sokrates und der naive Phaidros. Aber im Gegensatz zu den Protagonisten von Platon kennt er keine Hierarchie unter den Rednern, noch unter den Reden. Im Gegenteil, was ihn interessiert, ist, ihre Gleichheit zu suchen. Er erwartet() sich von keiner Rede die Wahrheit.“ (Rancière 2007, S.158)

Was sich der emanzipierte Mensch von der Rede erwartet, ist die „Anerkennung des anderen als intellektuelles Subjekt, das fähig ist zu verstehen, was ein intellektuelles Subjekt ihm sagen will“. (Vgl. ebenda) – Das ist der Begriff der „Zweiheit“ (vgl. Rancière 2007, S.45): erst wo zwei Intelligenzen kommunizieren, verwirklicht sich Intelligenz.

Dazu an anderer Stelle mehr. An dieser Stelle geht es mir vor allem darum, wie der unwissende Lehrmeister bewerten kann – R/J spricht nicht von ‚bewerten‘, sondern von verifizieren –, daß sein Schüler, seine Schülerin, tatsächlich etwas lernt? Wenn es auf den Inhalt nicht ankommt, kann der Inhalt auch nicht bewertet werden. R/J löst diese Aporie auf, indem er an die Stelle des Inhaltes die Aufmerksamkeit setzt. Der unwissende Lehrmeister kontrolliert bzw. verifiziert nur, ob sich seine Schüler aufmerksam mit ihrem Gegenstand beschäftigen. R/J hält sich immer wieder an das Beispiel ‚Telemach‘. Der unwissende Lehrmeister, beispielsweise ein Vater, der selbst kein Französisch kann, befragt seine Tochter, was ein bestimmtes Wort im Buch bedeutet, und er wiederholt das mit anderen Wörtern aus dem Buch, bis er auf schon einmal gefragte Wörter an anderen Stellen des Buches zurückkommt. So kann er feststellen, ob seine Tochter bloß willkürliche, beliebige Bedeutungen daherplappert, oder ob sie wirklich aufmerksam gelesen hat.

Mehr ist nicht nötig. Alles andere ist der Tochter überlassen. Der Vater hat keinen Grund an ihrer Intelligenz zu zweifeln. Er hat ihre Aufmerksamkeit ‚verifiziert‘. Und obwohl R/J immer wieder auf den Telemach verweist, gilt, daß jeder andere Lerngegenstand auf die gleiche Weise gelernt werden kann, gleichviel ob es um Handwerk, Wissenschaft oder Hauswirtschaft geht: in allen Tätigkeiten steckt die gleiche Intelligenz. Man könnte also auch sagen, daß der universelle Unterricht darin besteht, die Menschen zu Autodidaktikern zu machen. Was sie, wie R/J hervorhebt, auch von Geburt an sind. Denn niemand hat ihnen beigebracht, ihre Muttersprache zu sprechen. Sie müssen also lediglich aus der gesellschaftlichen Erniedrigung, in der man sie festhalten will, befreit (emanzipiert) werden.

Inwiefern unterscheidet sich aber die Aufmerksamkeit von der Intelligenz? Oder die Intelligenz vom Willen, von dem später noch die Rede sein wird? – Gar nicht. R/J unterscheidet nicht zwischen verschiedenen geistigen Vermögen, wie es Kant (1724-1804), ein Vorgänger Jacotots, tat: „Es gibt einen Willen, der befiehlt, und eine Intelligenz, die gehorcht. Nennen wir Aufmerksamkeit den Akt, der diese Intelligenz unter dem absoluten Zwang des Willens schreiten lässt. Dieser Akt ist stets derselbe ...“ (Rancière 2007, S.37)

Wir haben also zwar verschiedene Wörter, aber der Bewußtseinsakt ist immer derselbe. Es ist alles Intentionalität, wiederum ein anderes Wort für Aufmerksamkeit, die sich nicht in verschiedene geistige Vermögen aufteilen läßt: „Die Fähigkeit (Intelligenz – DZ) lässt sich nicht teilen. Es gibt nur eine Kraft, diejenige, zu sehen und zu sagen, aufmerksam zu sein darauf, was man sieht und was man sagt.“ (Rancière 2007, S.38)

Speziell für diesen Aspekt unseres Bewußtseins gibt es wiederum ein Wort: Apperzeption. Kant zufolge handelt es sich um unsere Fähigkeit, alle unsere Wahrnehmungen mit einem Denken zu begleiten. Schlichter formuliert: aufmerksam sein darauf, was man sieht und was man sagt. – Es ist dieses Grundmerkmal der menschlichen Intelligenz, das R/J im universellen Unterricht verifiziert wissen will. Wenn wir aufmerksam sind, kann uns jeder Gegenstand, mit dem wir uns befassen, emanzipieren: „Deshalb wird der unwissende Lehrmeister bei Gelegenheit seine Kompetenz dahin erweitern, nicht das Wissen des kleinen Herrn zu verifizieren, sondern die Aufmerksamkeit, die er dafür aufbringt, was er sagt und tut.“ (Rancière 2007, S.46)

Der ganze Zweck der Lehrtätigkeit besteht also in einer Apperzeption, in der „unbedingte(n) Aufmerksamkeit auf seine (des Schülers/der Schülerin – DZ) intellektuellen Tätigkeiten“. (Rancière 2007, S.50)

Das erinnert mich an Johann Friedrich Herbart (1776-1841), ein Zeitgenosse Jacotots, der postulierte, daß die Hauptaufgabe des Lehrers darin besteht, bei seinen Schülern Interesse zu wecken. Ist das Interesse einmal geweckt, ist das ungeteilte Bewußtsein, die ungeteilte Intelligenz, als Dienerin des Willens, immer schon dabei. Schülerinnen und Schüler sind aufmerksam bei der Sache, und es gibt keinen Rangunterschied zwischen ihnen und auch keine Verschiedenheit zwischen den geistigen Vermögen.

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