„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 3. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

Schon vor 12 oder 15 Jahren – auf jeden Fall bevor ich meinen Blog begann –, als ich zum ersten Mal „Der unwissende Lehrmeister“ von Jacques Rancière gelesen hatte, hatte ich schon Schwierigkeiten mit dem Text gehabt. Rancière macht sich keine große Mühe, die Begriffe sauber auseinanderzuhalten und belegt z.B. einen zentralen Begriff wie den der „Zweiheit“ (vgl. u.a. Rancière 2007, S.45) mit gegensätzlichen Bedeutungen. Rancière versteht unter diesem Begriff zwei verschiedene Intelligenzen, einmal in dem Sinne, wie ich in meinem Blog vom Ich = Du bzw. von der „Dualität“ oder der „Zweitpersonalität“ spreche: jeder Mensch, so Rancière, hat die gleiche Intelligenz wie jeder andere Mensch und interessiert sich für die Intelligenz seines Mitmenschen; also Ich = Du.

Dann aber spricht Rancière von der irrigen Annahme, daß die Intelligenz der Menschen unterschiedlich sei – wie es z.B. im IQ zum Ausdruck kommt –, und er spricht von einer zweigeteilten Intelligenz: einer höheren und einer niedrigeren, was er als „Dualität“ und als „Prinzip der Verdummung“ bezeichnet. (Vgl. Rancière 2007, S.18 und S.17) Die Verwendung des Begriffs „Dualität“ für einen hierarchisierten Intelligenzbegriff hatte mich beim erstmaligen Lesen ziemlich verwirrt.

Außerdem ist es schwierig, im Text zwischen dem Autor Rancière und seinem Protagonisten Joseph Jacotot (1770-1840), dem „Gründer“ des universellen Unterrichts, zu unterscheiden. Rancière referiert nicht über Jacotot, sondern er erzählt ihn nach, als wäre er Jacotot selbst. Die eingestreuten Zitate sind vom Text des Autors kaum zu unterscheiden, weil man im Leseeifer leicht über die Anführungszeichen hinwegliest, während sich der Text im Zitat nahtlos, ohne Unterbrechung, fortzusetzen scheint. Oft entdeckte ich das Endzeichen, wenn ich das Zitat gelesen hatte, und suchte dann mühsam das Anführungszeichen, um zu erkennen, an welcher Stelle der Text des Autors eigentlich geendet hatte. Deshalb werde ich im Folgenden nicht zwischen Rancière und Jacotot unterscheiden, sondern nur summarisch von R/J reden.

Was mich vor allem bei der aktuellen, zweiten Lektüre irritiert hat, ist der Untertitel: „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“. Das paßt so gar nicht zum Inhalt des Buches. Lektionen sind auch in Frankreich, glaube ich, eine Form der Unterweisung und implizieren ein hierarchisches Autoritätsgefälle zwischen dem Lehrmeister und seinen Schülern. Ein unwissender Lehrmeister unterweist deshalb nicht, weil es bei ihm dieses hierarchische Gefälle nicht gibt. Es gibt nichts, was er seinen Schülerinnen und Schülern beibringen könnte; denn dann wäre er nicht unwissend, und als Wissender könnte er niemanden emanzipieren. Jedenfalls bildet das eine Grundbotschaft von R/J. Vor allem aber ist der ‚Unterricht‘, den R/J als universellen Unterricht bezeichnet, keine Methode. Jacotot selbst hatte Wert darauf gelegt, daß es keine „Methode Jacotot“ gebe. (Vgl. Rancière2007, S.145)

Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Die ‚Methode‘ des universellen Unterrichts steht in keinem Konkurrenzverhältnis zu anderen Lehrmethoden. (Vgl. Rancière 2007, S.120ff., 133ff., 152ff. und 157ff.) Wenn es also schon zweifelhaft ist, ob der universelle Unterricht überhaupt eine Methode ist, wie kann es dann fünf Lektionen über den universellen Unterricht geben?

Der Untertitel paßt also nicht zum Buch. Allerdings erklärt dieser Untertitel den seltsamen Stil des Buches, in dem es geschrieben worden ist. Es ist ein polemischer und ironischer Stil; und vielleicht ist der Untertitel ja selbst ironisch gemeint. Aber es ist auch ein dogmatischer Stil. Rancière macht die ‚Lehre‘ des Jacotot nicht an ihrer Praxis fest, sondern an seinem Namen. In wiederum ironischer, an die angeblichen Nachfolger Jacotots gerichteter Rede heißt es: „... es ist dieser Eigenname, der alleine den Unterschied macht, der die ‚Gleichheit der Intelligenz‘ verkündet und den Abgrund unter den Schritten aller Ausbilder und Beglücker des Volkes sich auftun lässt. Es ist wichtig, dass dieser Name verschwiegen wird, dass die Verkündigung durchkommt.“ (Rancière 2007, S.151)

Die Ironie des letzten Satzes ist beim ersten Lesen verwirrend. Tatsächlich ist nämlich das Gegenteil gemeint. Denn es sind die angeblichen Nachfolger Jacotots, die meinen, daß der Name Jacotots für die Sache, um die es geht, bedeutungslos sei und deshalb nicht genannt zu werden braucht. (Vgl. Rancière 2007, S.145) – In dieser ironischen Formulierung wird Jacotot also zu einer geradezu messianischen Autorität überhöht, was das krasse Gegenteil der intellektuellen Emanzipation ist, die das einzige Ziel des universellen Unterrichts ist. ‚Übersetzt‘ man – und Übersetzen bildet geradezu die Grundform der intellektuellen Emanzipation – diese Ironie in eine einfache Aussage, richtet sich der an die Nachfolger gerichtete Vorwurf an den Autor selbst.

Erst an späterer Stelle, wo Rancière den „Namen Jacotot“ zum Kampfbegriff gegen die ‚Nachfolger‘ macht, wird diese Ironie vollends aufgedeckt. (Vgl. Rancière 2007, S.157)

Trotzdem haben mich schon bei meiner ersten Lektüre einzelne Stellen so beeindruckt, daß ich einige zentrale Aussagen wie die vom Menschen, der ein Wille ist, dem eine Intelligenz dient (vgl. Rancière 2007, S.66), für mein eigenes Denken übernommen habe. In meinem letzten Blogpost vor zweieinhalb Jahren, mit dem ich vermeintlich meinen Blog beendete, um ihn dann aber doch, in anderer Form, weiterzuführen, habe ich mich von dem wissenschaftlichen Anspruch, mit dem ich ihn bis dahin betrieben hatte, verabschiedet. Orientiert an der Unwissenheit Jacotots hielt ich fest, daß es „bei allem Denken und Schreiben nicht auf die Resultate ankommt, nicht auf die geistigen Höhenflüge und Abstraktionen“. „Intellektuelle Demut“ schien mir deshalb angebracht zu sein. Der wissenschaftliche Anspruch aber, vor allem in Form der wissenschaftlichen Lehre, ist keineswegs demütig. R/J jedenfalls läßt nur die wissenschaftliche Forschung als eine Form intellektueller Emanzipation gelten.

Ich muß allerdings einschränkend hinzufügen, daß es durchaus eine wissenschaftliche Lehre gibt, wie sie Wilhelm von Humboldt konzipiert hat, die sich an die Studierenden als Gleiche im Sinne des universellen Unterrichts richtet. In dieser Lehre erhebt die Professorin, der Professor, gar nicht den Anspruch, ‚intelligenter‘ zu sein als die Studierenden. Beide erproben vielmehr gegenseitig ihr vermeintliches Wissen. Hier muß niemand mehr emanzipiert werden. – So viel Differenzierung muß trotz aller Kritik möglich sein.

Zu einer systematischen Lektüre des Buches hatte es jedenfalls bis dahin bei mir aus den genannten Gründen nicht gereicht. Das will ich jetzt nachholen.

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