„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. November 2022

„Sprachwandel und Kulturwandel“

Gerhard Poppenberg (Hg), Sprachwandel und Kulturwandel, 2022

  1. Magier und Mystiker
  2. Adam, Eva und das Genderproblem

Gerhard Poppenberg hebt die feine Ironie hervor, mit der Kurt Vossler in seinem 1916 veröffentlichten Text zu „Form und Bedeutung“ die Genderproblematik mehr andeutet, als daß er über sie spricht (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.36 und S.55): „Und als Adam zum ersten Mal des Weibes ansichtig wurde, nannte er sie ‚Männin‘, weil sie, wie er meinte, ‚doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch und vom Manne genommen ist‘.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.7)

Vossler versetzt Adam in diesem Zitat aus der Luther-Bibel in den Zustand des Meinens und lädt so die männlichen Leser seiner Zeit dazu ein, über den Status der Frauen in ihrer Gesellschaft noch einmal ein wenig nachzudenken. Er selbst bezieht auf subtile Weise Position, indem an zwei zentralen Stellen, nämlich am Anfang und am Ende seines Textes, zwei alternative Versionen einer Versöhnung der zwei Seiten der Sprache, von Form und Bedeutung, vorträgt. Adams Version besteht in einem entschiedenen Realismus: nomen est omen! Der Name bestimmt das Wesen des Benannten. Für Eva heißt das, daß es ihr Wesen ist, ein Teil von Adam zu sein.

Wir wissen, wie es weiterging. Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben, dann kam die babylonische Sprachverwirrung, und so verloren die Sprachen ihre Macht über das Wesen der Dinge.

Am Ende des Buches teilt uns Vossler seine Version einer Versöhnung von Form und Bedeutung in der Sprache mit, die sich von der adamitischen Version unterscheidet. Nachdem Vossler zunächst vom „Durchschnittsmenschen“ gesprochen hatte, der sich pragmatisch am Alltag orientiert, in der die Sprache ganz gut funktioniert, ohne daß er sich haarspalterische Gedanken über Form und Bedeutung machen muß, kommt er zum Schluß auf die „Künstler der Sprache“, die „Dichter“ zu sprechen. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.18) Wenig überraschend weiß Vossler noch nichts von den heutigen Debatten über das Gendern und benutzt ganz naiv das generische Maskulinum. Aber er sieht die Lösung des sprachwissenschaftlichen Dilemmas im „Schoß der Dichtung“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.19) und macht so, auf Augenhöhe mit den Männern, die Frauen – pars pro toto: „Schoß“ – zu Sprachsubjekten. Vossler, so Poppenberg (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.37), will offensichtlich die adamitische Version außer Kraft setzen, ‚Schoß‘ gegen ‚Rippe‘ setzen und die zwei Seiten der Sprache versöhnen, indem die Frauen wieder gleichberechtigter Teil der Sprachgemeinschaft werden, ähnlich wie ja auch in der Dichtung die Aufspaltung der Sprache in Form und Bedeutung überwunden wird.

An dieser Stelle muß ich mich zunächst Poppenbergs Vorstellung vom Sprach- und Kulturwandel zuwenden, wie er sich in unserer Gesellschaft am Genderkonflikt zeigt. Poppenberg definiert die Kultur als ein „kollektives und gesellschaftliches Phänomen“; als die „Gemeinschaft derer, die einen Sinn teilen“. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.41)

Im Detail führt Poppenberg aus: „Der Geist ist als historische Kraft in der Sprache wirksam und nimmt als Kultur Gestalt an. Er ist als Sprach- und Kulturwandel erkennbar, ohne eine substanzielle Instanz jenseits der historischen Prozesse zu sein. Kultur, Geist und Sprache sind Korrelationsbegriffe. ... Die Korrelation der drei Begriffe gründet in der Gemeinschaft der Sprechenden, die ihre Kultur als ihre Geschichte ausbilden. Geschichte hat ihr Wesen nicht im Geist, sondern das Wesen von Geist, Kultur und Sprache ist die Geschichte. Das ergibt einen Begriff von Geist, für den das Historische konstitutiv ist.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.46)

Wo immer also von einem der drei Begriffe, Geist, Kultur und Sprache, die Rede ist, sind die anderen beiden Begriffe mit im Spiel. Wir können nie nur einen einzelnen aus dieser Korrelation herausgreifen, ohne die anderen mitzumeinen. Für den Sprachwandel heißt das, daß mit ihm selbstverständlich ein Kulturwandel einhergeht, und für den Kulturwandel, daß mit ihm ein Sprachwandel einhergeht. Und beides verändert den ‚Geist‘ einer Gemeinschaft und mit ihm das individuelle Bewußtsein der Menschen. Deshalb möchte ich der Poppenbergschen Korrelation noch einen weiteren Begriff hinzufügen: die Lebenswelt. Sie bildet den Hintergrund, von dem sich die von Poppenberg aufgeführten Korrelationsbegriffe abheben, um sich im geschichtlichen Prozeß immer wieder neu zu konturieren.

Poppenberg ergreift deshalb gegen Leo Spitzer, dem Autor des zweiten Beitrags, Partei für Vossler, der mit seiner hermeneutisch literaturwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft nicht auf allgemeine Formgesetze hinauswill, sondern für individuelle Objektivität plädiert. Vosslers methodischer Ansatz, so Poppenberg, „hat seinen Grund in etwas, das Georg Simmel (1858-1918) kurz zuvor in der Zeitschrift ‚Logos‘ (1913), in der auch Vossler einige seiner sprachwissenschaftlichen Aufsätze publizierte, als ein ,individuelles Gesetz‘ entwickelt hatte“: „Es hat eine ‚radikalere Objektivität‘ als das vermeintlich objektive allgemeine rationale Gesetz. ... Es gibt eine ‚Objektivität des Individuellen‘, die ‚aus dem individuellen Leben herausgeformt‘ wird.()“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.47)

Wenn wir in diesem Sinne von einem Kultur- und Sprachwandel sprechen, wird deutlich, daß es nicht einzelne Sprecherinnen und Sprecher sind, die über das Gendern entscheiden, auch nicht einzelne Gruppen und ihre Interessen, sondern die Sprachgemeinschaft, also jener „Durchschnittsmensch“, von dem schon die Rede war, der die Sprache alltäglich verwendet und seinen Gebrauch den Situationen anpaßt, die sich ihm stellen.

Wenn sich die „binäre Geschlechterkonzeption“ als zu eng erweist, um die gesellschaftliche Praxis angemessen zu beschreiben – und davon geht Poppenberg mit Verweis auf Magnus Hirschberg (1865-1935) aus –, dann werden sich Sprache und Kultur wandeln. Immer schon, so Poppenberg, ‚projizieren‘ die Menschen ihre „eigene Geistesart in die Dinge“ ‚hinein‘: „Wenn in den romanischen Sprachen die Sonne maskulin, in den germanischen Sprachen feminin ist, hat das seinen ‚Grund nicht in der Sonne, sondern in den Sprechern‘.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.52)

* * *

Zum Schluß nochmal zu Magnus Hirschberg. Hirschberg stellte fest, daß auf individueller Ebene die „menschliche Trieb- und Affektverfassung“ polymorph, nicht binär ist. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.49) Aber Poppenberg weist darauf hin, daß die „binäre Geschlechterkonzeption“ für die Gesellschaft bislang konstitutiv gewesen ist: „Die Geschlechterdifferenz gehörte zur elementaren Konzeption des Gefüges menschlicher Zivilisation. ... Ein Wandel dieser archaischen Konzeption impliziert einen vermutlich grundstürzenden Wandel des gesellschaftlichen Gefüges und der Sprache als seiner Ausdrucksgestalt.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.55)

Poppenberg vermeidet es an dieser Stelle, vom Patriarchat zu sprechen. Wenn man einmal von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen absieht, die sich nicht immer eindeutig und bis ins letzte unbezweifelbar bestimmen lassen, ist es vor allem die Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären, die sie vom Mann unterscheidet. Dieser Unterschied ist so fundamental, daß er einen psychisch verhängnisvollen Marker setzt: nämlich einen existenziellen Mangel auf Seiten des Mannes. In Reproduktionsangelegenheiten gibt es keinerlei Gleichwertigkeit zwischen Frauen und Männern. Der Verweis auf das Sperma, die angeblichen 50 Prozent, die die Männer beisteuern, ist ein Witz. Der männliche ‚Same‘ ist so wenig eine vollwertige Keimzelle wie Adams Rippe eine Gebärmutter.

Bei aller Unwissenheit früherer Generationen war doch in der Menschheitsgeschichte immer offensichtlich gewesen, wer die Kinder gebiert. Und genau hier liegt der Ursprung des Patriarchats, nämlich in der binären Differenz, Kinder in die Welt setzen zu können oder nicht. Es war die Erfahrung der eigenen Minderwertigkeit, die die Männer dazu brachte, sich mit Hilfe des Patriarchats auf Kosten der Frauen aufzuwerten. Ich kann mir jedenfalls kein anderes so sehr die eigene Identität betreffendes Motiv für die Entstehung des Patriarchats vorstellen als das Minderwertigkeitsgefühl, wie es auch Alfred Adler seiner Psychologie zugrundegelegt hat und das sich von Generation zu Generation erneuert und deshalb immer wieder neu verarbeitet und kompensiert werden will.

Würde diese binäre Differenz, die unabhängig davon ist, von wie vielen Geschlechtern wir angesichts unserer sexuellen Polymorphie ausgehen müssen, ehrlich ausgesprochen und gesellschaftlich anerkannt, dann würde das tatsächlich zu dem „grundstürzenden Wandel“ führen, von dem Poppenberg spricht.

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