„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 18. April 2020

Vorläufiges zu Habermas

Bevor ich diesen Blog am 21.04. endgültig beende, möchte ich nochmal ein vorläufig abschließendes Urteil meiner bisherigen Lektüre von Habermasens „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2 Bde., 2019) posten. (Vgl. auch meine Posts vom 10.01. und 18.01.2020) Der erste Band hatte mir insgesamt gut gefallen, also Habermasens am Verhältnis von Glauben und Wissen orientierte Darstellung der philosophischen Ideengeschichte von der griechischen Antike bis ins hohe Mittelalter. Allerdings kann ich Habermasens Glauben an einen Lernprozeß, der Jahrtausende umfaßt, nur innerhalb der engen Grenzen dieses Expertendiskurses teilen; und auch nur unter dem eingeschränkten Blickwinkel seines sprachpragmatischen Ansatzes. Aber diesen philosophisch begründeten Lernprozeß mit einem umfassenden Fortschritt der kulturellen Epochen einschließlich des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu verbinden, lehne ich energisch ab.

Meine eigenen anthropologischen Einsichten in die Natur menschlicher Individualität lassen es nicht zu, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß als Fortschritt zu deklarieren. Eine solche Einordnung unterschlägt das biologische und das ontogenetische Moment eines dreifach ausdifferenzierten Entwicklungsprozesses. Habermas könnte mir mit meinem Fortschrittsskeptizismus einen anthropologischen Pessimismus vorwerfen. (Vgl. mit Bezug auf Martin Luther: Habermas 2019, Bd.2, S.52f.) Aber ich bin der Ansicht, daß die Chancen für ein gelingendes Leben bei einer individuellen Lebensführung höher liegen als bei der Einordnung des vergemeinschafteten Individuums in ein Kollektiv. Meine positive Bewertung der menschlichen Individualität und die damit verbundene kritische Distanzierung zu Kollektiven kann man eigentlich nicht als pessimistische Anthropologie bezeichnen.

Vielleicht habe ich den Fehler begangen, nach dem Abschluß meiner Lektüre des ersten Bandes die Lektüre des zweiten Bandes mit dem Postskriptum zu beginnen. In dem Postskriptum erläutert Habermas seinen sprachpragmatischen Ansatz, mit dem er die Kantische Transzendentalphilosophie überwunden haben will. In diesem sprachpragmatischen Ansatz vereinnahmt Habermas die individuelle Ontogenese als Produkt gesellschaftlicher Vergemeinschaftung. Wenn er von einer ‚Spannung‘ zwischen Individuum und Gesellschaft spricht, nimmt er diese Spannung nicht wirklich ernst, weil sie seiner Ansicht nach immer schon – im vorhinein (a priori) – durch die Vergemeinschaftung ermöglicht und schließlich auch in ihr aufgehoben wird.

Ich befürchte, daß der ganze zweite Band unter dem Vorzeichen dieser Sprachpragmatik steht. Anders als Habermas glaube ich nicht, daß seine Sprachpragmatik die einzig legitime Überwindung von Kants Transzendentalphilosophie bildet. Auch Helmuth Plessner überwindet sie mit der exzentrischen Positionalität. Was bei Kant „transzendental“ genannt wird, also das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption, beschreibt Plessner als die exzentrische Position eines Menschen, der in seinem Verhältnis zur Welt aus ihrer Mitte herausgetreten ist und sich nun an ihrem Rande aufhält; an ihrer Peripherie. Die damit verbundene Anthropologie ist neutral gegenüber Ortsbestimmungen, seien sie nun räumlicher oder sozialer Art. Auch gegenüber der Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft ist der Mensch exzentrisch positioniert.

Das Menschliche geht also über Sprache hinaus und reicht weiter hinter sie zurück, als es sich Habermas mit seinen ‚bedeutungsidentischen‘ Symbolen vorzustellen vermag. Habermas kann sich die Vergemeinschaftung des Individuums nur als kognitiven und moralischen Lernprozeß vorstellen, also als Fortschritt:
„Historische Schübe des ‚moralischen Lernens‘ führen zur Erweiterung eines eingewöhnten Spektrums der gegenseitigen Perspektivenübernahme und des entsprechenden Horizonts von gegenseitigen Verpflichtungen.“ (Habermas 2019, 2.Bd., S.792)
Demgegenüber erscheint die zweitpersonale Perspektive als eingeschränkt, auch wenn Habermas sie im Anschluß an Michael Tomasello auf neue Weise (als ‚Entdeckung‘!) zu würdigen weiß. Bislang zählte für ihn nur die Autorität des Gruppen-„Wir“ mit seinen Konsensfindungsprozeduren. Jetzt aber gesteht Habermas dem zweitpersonalen „Du“ eine eigene Perspektive auf die Gültigkeit von Normen, ungeachtet ihres jeweiligen Gehalts, zu. Damit erkennt er die für jede Moral allererst fundierende Funktion der zweitpersonalen Perspektive an.

Dennoch nimmt Habermas, wie schon die erwähnte individuierende Spannung zu Gemeinschaft und Gesellschaft, diese zweitpersonale Perspektive nicht wirklich ernst. An den Stellen, wo Habermas die Problematik von Diskriminierungen anspricht, Sexismen und Rassismen, geht es eben nicht mehr, wie Habermas es immer noch unterläuft, um den kollektiven Ausgleich zwischen rivalisierenden Gruppen-Wirs, sondern um die Verwirklichung einer die Grenzen von Gruppen sprengenden zweitpersonalen Beziehung. Zwar heißt es im Sinne individueller Menschenrechte:
„Als Ergebnis einer solchen Perspektivenübernahme werden beispielsweise subjektive Rechte eingeführt, die garantieren, dass niemand wegen der Ausübung seiner sexuellen Freiheit, seiner religiösen Überzeugungen oder seiner politischen Auffassungen diskriminiert werden darf, dass jeder anders sein, anders leben und sich für anderes öffentlich engagieren darf als andere.“ (Habermas 2019, 2.Bd., S.794)
Sicherlich bedürfen solche subjektiven Rechte einer gesellschaftlichen Institutionalisierung, um sie einklagbar zu machen. Aber diese Rechte befinden sich nicht einfach irgendwo in Konventionen fixiert, sondern sie sind Ausdruck von subjektiven Bedürfnissen. Sie beziehen sich ganz konkret auf die individuelle Lebensführung, die sich in der Begegnung mit einem Du erfüllt und nur am Rande auch etwas mit einer Gruppe zu tun hat. Die Gruppe hat nicht das Recht, regulierend in die zweitpersonale Beziehung einzugreifen; denn auf der zweitpersonalen Ebene bedeutet ‚regulieren‘ fast immer auch ‚diskriminieren‘.

Habermas aber bleibt auch hier noch der Gruppenperspektive verhaftet. Er imaginiert den Anderen, den es in seiner Andersheit zu respektieren gilt, immer nur als Angehörigen einer Gruppe, ohne zu erkennen, daß die Gruppe als Gruppe immer schon diskriminiert, da sie sich als Gruppe von anderen absetzt, die nicht zur Gruppe gehören. Nur auf der zweitpersonalen Ebene wird nicht diskriminiert, weil Du gleich Ich ist; und Du ist jeder, der mir begegnet.

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