„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 10. Januar 2020

Entwicklung: Fortschritt oder Verfall?

Jürgen Habermas bekräftigt in „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) noch einmal seine schon in vorangegangenen Texten festgehaltene Position, daß es in der Kultur- und Denkgeschichte der Menschheit einen Lernprozeß gibt, den er zugleich als eine Fortschrittsgeschichte versteht. Diese Hauptthese wird von ihm selbst in drei Hinsichten aber gleich wieder eingeschränkt: zum einen beschränkt er sich bei seiner Darstellung auf den okzidentalen Bereich der menschlichen Kulturgeschichte, für den er sich als Experte für zuständig hält, während er die Geschichte der anderen Erdteile nicht gut genug kennt, um über deren Kulturgeschichte plausible Urteile fällen zu können.

Zugleich aber legt Habermas seine Kultur- und Denkgeschichte so tief an, daß er bis in die Altsteinzeit zurückgeht, für die er ebenfalls seinen Amateursstatus einbekennt. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S. 310 und S.351) Ich halte das deshalb für erwähnenswert, weil Habermas in den Expertendiskursen der Philosophie sonst nur „Peers“ zulassen will, jetzt aber nicht umhin kann, die Notwendigkeit zuzugeben, sich als Amateur zu wesentlichen Momenten der Menschheitsentwicklung zu äußern.

Auch zu den asiatischen Kultur- und Denkprozessen, auf die er kursorisch (in zwei Kapiteln) eingeht, um sie in ihrem Recht gelten lassen und den okzidentalen Weg genauer ausdifferenzieren zu können, nimmt Habermas als Amateur Stellung. Die wesentliche Differenz zwischen diesen globalen Teilprozessen sieht Habermas darin, daß die jüdisch-christliche Entwicklung den Willen Gottes und des Menschen ins Zentrum stellt, was zu einem Dualismus von gut und böse geführt hat, der bis heute das abendländische Denken prägt, während es Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus vor allem um die Erkenntnis des Seins und um dessen Überwindung geht, so daß die Vorstellung von einem radikal Bösen hier völlig fremd ist.

Habermas schränkt also den universellen Anspruch eines menschheitlichen Lern- und Fortschrittsprozesses hinsichtlich einer okzidental-europäischen und einer asiatischen Ausprägung des Vernunftbegriffs ein.

In einer zweiten Hinsicht verweist Habermas auf die „Kontingenzen“ in der angenommenen rationalen Kontinuität des menschheitlichen, auch die asiatischen Kulturen einbeziehenden Kultur- und Denkprozesses. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.71f.) An anderer Stelle spricht Habermas auch von der „unregelmäßige(n) Folge von kontingent ausgelösten Lernprozessen“. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.16) Es gibt also schon mal keine zwingende, stringent verlaufende Fortschrittsgeschichte. Zufälle spielen eine Rolle! Habermas spricht sogar im Rahmen dieses von Kontingenzen durchsetzten Fortschrittsprozesses von „Krisenphänomene(n) eines Zerfalls der Solidarität“! (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.39; Hervorhebung – DZ) Die angebliche Fortschrittsgeschichte wird also von einer Verfallsgeschichte begleitet.

In einer dritten Hinsicht verweist Habermas auf das mit dem Fortschritt einhergehende Komplexitätsproblem, das sich der Steuerung durch den Menschen entzieht. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.72) Längst steuert nicht mehr der Mensch den von ihm begonnenen Entwicklungsprozeß, sondern die Technik bzw. die Technologie steuert die Entwicklung des Menschen, der die von ihm hervorgebrachte Komplexität nicht mehr durchschaut. Die Naturwüchsigkeit ist auf die Seite der Technik gewechselt, von der wir längst genauso abhängig geworden sind wie ehedem von der Natur.

Deshalb spricht Habermas in seinem neuen Buch auch nicht mehr pauschal von Lern- und Fortschrittsprozessen schlechthin, sondern von „intrinsisch“, „intern“ bzw. „immanent“ als Fortschritt wahrgenommenen Lern- und Fortschrittsprozessen. Es hängt also von der subjektiven Perspektive der Beteiligten und Betroffenen ab, ob von ‚Fortschritt‘ oder von ‚Verfall‘ gesprochen wird. So kritisiert Habermas auch die Kritiker der technischen Zivilisation, daß sie die „Sicht der Selbstbeschreibung der Moderne“, die die Resultate der technischen Revolution als „Errungenschaften“ wahrnimmt, nicht berücksichtigen. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.64)

Letztlich gesteht Habermas also implizit ein, daß es keine objektiven Gründe gibt, die technische Zivilisation als Fortschritt zu begreifen. Die Gründe für die Ablösung einer geschichtlichen Epoche durch eine andere gelten nur intern, also perspektivisch, für die, die diese Ablösung bzw. „Revision“ (der bisherigen Kulturgeschichte als Irrtumsgeschichte), wie Habermas schreibt, herbeiführen: die „Revision von Irrtümern“ bedürfe – so Habermas – „keiner anderen Begründung ... als der Gründe, die zu dieser Revision selbst geführt haben“. (Vgl. Habermas 2020, 1.Bd., S.67) – Damit haben wir es aber mit einer völligen Entkopplung des Zusammenhangs von Epochen zu tun: jede neue Epoche kann sich selbst neu begründen, ohne sich um die bisher geltenden Gründe kümmern zu müssen. Wie kann man da noch von einer Lern- und Fortschrittsgeschichte des kulturellen Denkens sprechen?

Meiner Ansicht nach verbietet es sich nach dem Holocaust überhaupt, von einer menschheitlichen und erst recht von einer okzidental-europäischen Fortschrittsgeschichte zu sprechen. Es bedarf allererst einer anthropologischen Reflexion, die einen realistischen Blick auf die Natur des Menschen wirft; und zwar ohne auf die Differenz von gut und böse zurückzugreifen, wie ich hervorheben möchte! Dazu gehört immer die Berücksichtigung dreier Entwicklungsprozesse, die nicht miteinander harmonieren, sondern antagonistisch zueinander verlaufen: die Biologie, die Kultur und das Individuum, das sich auf der Grenze zwischen den ersten beiden bewegt. Wenn sich hier etwas bildet – Habermas spricht auch von kulturellen Bildungsprozessen –, dann das Individuum, das im Laufe seines Lebens etwas aus sich macht.

Nun ist aber das Individuum sterblich, und es werden ständig neue Individuen geboren. Der Tod bricht also individuelle Entwicklungsprozesse abrupt ab, die dann mit den neu geborenen Individuen wieder von vorne, bei Null, anfangen. Auf dieser Basis kann von nachhaltigen Lern- und Forschrittsprozessen im kulturellen Denken – trotz aller kultursichernden Maßnahmen auf gesellschaftlicher (Institutionen) und individueller (Erziehung) Ebene – keine Rede sein. Die historische Erfahrung lehrt: Kulturen sind äußerst fragil und in ihrem Bestand befristet. Und das umso mehr je elaborierter sie in ihren Sitten und Technologien sind.

Tatsächlich spricht auch Habermas von der Notwendigkeit einer anthropologischen Differenzierung von Entwicklungsprozessen. Dabei spricht er aber vor allem von der biologischen und der sozialen Evolution, die er nicht in ihrer Gleichzeitigkeit aufeinander bezieht, sondern hintereinander ordnet, in dem Sinne, daß die biologische Evolution von der sozialen Evolution abgelöst wird, also ihre Relevanz für die Menschheitsentwicklung verliert:
„Die Hominisation lässt sich so beschreiben, dass mit zunehmender Größe des Gehirns kulturelle Lernprozesse die erheblich langsameren biologischen Entwicklungen zunächst ergänzt und dann abgelöst haben.“ (Habermas 2019, 1.Bd., S.227)
Die biologische Evolution spielt also keine Rolle mehr und die zwischen Geburt und Tod verlaufende, auf der Grenze zwischen Biologie und Kultur sich bewegende individuelle Entwicklungsebene nur eine dem gesellschaftlichen Kollektiv untergeordnete Rolle, so daß wir es bei Habermas letztlich nur noch mit der kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungsebene zu tun haben:
„Jedes vergesellschaftete Individuum erfährt im Vollzug der Initiation immer wieder, dass es seine Identität als einzelner nur in und zusammen mit dem sozialen Netzwerk der reziproken Anerkennungsbeziehungen eines Kollektivs erhalten kann.“ (Habermas 2019, 1.Bd., S.220)
Mit dem Bezug auf die enorme Relevanz von Initiationsriten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bringt Habermas das ‚Kunststück‘ zustande, gleichzeitig auf die enorme Bedeutung des Generationenwechsels für die Gesellschaft zu verweisen und die Bedeutung der individuellen Entwicklungsebene im Gesamtzusammenhang der kulturell-menschheitlichen Lern- und Fortschrittsgeschichte zwar nicht direkt zu leugnen, aber doch im wesentlichen zu entwichten.

Habermasens Mißachtung individueller Bildungsprozesse hat viel mit seiner Sprachphilosophie zu tun. Kommunikation ist seiner Ansicht nach nur möglich auf der Basis des gemeinsamen Verstehens von bedeutungsidentischen Symbolen. Ich will jetzt nicht im Detail auf Habermasens Verständnis von narrativ verfaßten Mythen und dogmatisch verfaßten Religionsgemeinschaften eingehen, das sich diametral von Hans Blumenberg unterscheidet. Das Dogmatische wertet Habermas als Fortschritt gegenüber dem Narrativen. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.193, 220 u.ö.) Ich will nur kurz die Bedeutung dieser Auffassung von Kommunikation auf der Basis von bedeutungsidentischen Symbolen für die Mißachtung der individuellen Entwicklungsebene erläutern.

Habermas hat kein Gespür für die Funktion von Metaphern für das menschliche Denken und Sprechen, wie sie Hans Blumenberg beschrieben hat. Metapher und Mythos bilden bei Blumenberg einen engen Zusammenhang. Der Mythos steht am Anfang der Menschheitsentwicklung. Er funktioniert im Wesentlichen metonymisch und metaphorisch, und aus dieser Funktionsweise gehen Denken und Sprechen hervor. Oder anders: mit dieser Funktionsweise gehen Denken und Sprechen einher, ohne daß diese sie jemals überwinden könnten. Denken und Sprechen sind nach wie vor, auch heute noch, notwendigerweise in die Lebenswelt eingebettet, und die Lebenswelt ist der fortexistierende Mythos.

Deshalb gibt es auch keine Bedeutungsidentität in der menschlichen Sprache. Mit der Bedeutungsspannbreite von Wörtern, Sätzen und Texten hängt ja auch das Übersetzungsproblem in der Literatur zusammen. Bedeutungsidentität gibt es nur in der Mathematik und, zumindestens dem Anspruch nach – man denke an die Differenz zwischen ‚junge Frau‘ und ‚Jungfrau‘ –, im Dogma. Das Dogma bildet keinen Fortschritt gegenüber dem Mythos, sondern es ist eine spezielle und sehr begrenzte Denkweise. Bei Mythos und Metapher haben wir es mit einer anthropologischen Struktur zu tun. Es gibt keine Entwicklung auf dieser Ebene!

Aber es gibt eine individuelle und gesellschaftliche Ausdifferenzierung des Umgangs mit dieser Ebene, wie sie Blumenberg in „Arbeit am Mythos“ (1979) beschrieben hat. Und nur der individuelle Bildungsprozeß im Umgang mit dieser anthropologischen Ebene beinhaltet einen Lernprozeß, der sich zwischen Geburt und Tod erstreckt. Der gesellschaftliche Umgang ist je nach kultureller Epoche kontingent unterschiedlich. Hier kann von einer kontinuierlichen, also bildenden Entwicklung keine Rede sein.

Unter der Vorgabe eines bedeutungsidentischen, Individuen von vornherein, bevor sie als Individuen in Erscheinung treten, vergesellschaftenden Symbolismusses, kann es aber keine eigenständige individuelle Entwicklungsebene geben. An diesem blinden Fleck krankt Habermasens Rekonstruktion einer das ganze menschheitliche Denken umfassenden Lern- und Fortschrittsgeschichte.

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