„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 15. Januar 2020

Seele, Rhetorik und die Begrenztheit des menschlichen Verstandes

In dem von Rüdiger Zill aus dem Nachlaß herausgegebenen Buch „Die nackte Wahrheit“ (2019) beschreibt Hans Blumenberg die Rhetorik als ein Mittel, die Wahrheit zu sagen und sie gleichzeitig zu verbergen:
„Als Lehre von der Beredsamkeit muß sie darin ehrlich sein, das Ziel der Täuschung auch dann einzugestehen, wenn sie sich dessen gewiß ist, nur der Verbreitung der Wahrheit zu dienen, weil sie sich dessen nicht gewiß ist, daß die Akzeptanz der Wahrheit ihrer Qualität entspricht. Als Ausübung jener gelehrten und erlernbaren Kunst kann die Rhetorik nicht ehrlich sein, die Täuschung als ihr Ziel anzuerkennen, weil sie, was ihr Ziel ist, durch diese Anerkennung zugleich unerreichbar machen müßte.“ (Blumenberg 2019, S.29f.)
Die Rhetorik ist eine notwendige Hülle, die gleichermaßen etwas zeigt und verbirgt. Immer wieder vergleicht Blumenberg die Wahrheit mit einer Zwiebelschale, die aus vielen ‚Hüllen‘ bzw. Schichten besteht, ohne daß es irgendwo im Innersten einen wahren Kern gäbe:
„Die Enthüllung führt nicht in die Tiefe der Dinge, sondern an eine andere Oberfläche ...“ (Vgl. Blumenberg 2019, S.17; vgl. auch S.16, 97, 102, 155)
Wir kennen diese Figur der verbergenden Enthüllung und der enthüllenden Verbergung schon von Helmuth Plessners ‚Seele‘ und ihr noli me tangere. Die Seele will Plessner zufolge zwar verstanden, aber nicht durchschaut werden und zieht sich aus allem, was sie sagt, sogleich wieder zurück, leugnend, daß sie es so gemeint habe. Auch bei Blumenberg gilt für den Menschen, was für die Wahrheit gilt:
„Der Mensch ist, so banal es klingt, ein Fall der erschreckendsten Prolongation der Nacktheitsmetaphorik zur Metapher der Zwiebelschale, der Artischocke. Nichts ist, wenn er einmal geöffnet worden ist, ein Letztes; und wo ein Letztes erreicht zu sein scheint, ist es nicht mehr das seinige.“ (Blumenberg 2019, S.102)
Was für die Zwiebel die Schalen sind für die Wahrheit die Metaphern. Keine Wahrheit ohne Rhetorik, keine Rhetorik ohne Metaphern; und schließlich: ohne Metaphern keine Sprache. Mit Bezug auf Lichtenberg und Wittgenstein hebt Blumenberg die wesentliche Verschliffenheit, die grundlegende Mehrdeutigkeit der menschlichen Sprache hervor, der keine Sprachkritik etwas anzuhaben vermag, weil sich die Sprachkritik immer der falschen Sprache bedienen muß, wo sie die richtige Sprache in Kraft zu setzen versucht:
„Dieses Paradox löst sich erst auf, wenn man bemerkt, daß die Berichtigung des Sprachgebrauchs als Inbegriff der Philosophie es zu schwer hat, sich an der gewöhnlichen Falschheit der Alltags- und Schulsprachen zu betätigen, weil diese in ihrer Verschliffenheit der Aufmerksamkeit keine ausreichenden Konturen anbieten.“ (Blumenberg 2019, S.172)
Die „Verschliffenheit“ der Alltagssprache, das Fehlen von „Konturen“ macht den durchgängigen Gebrauch einer wohldefinierten, nicht von Metaphern durchsetzten und im engeren Sinne wahrheitsfähigen Begrifflichkeit praktisch unmöglich.

Metaphern sind aber nicht nur unvermeidbare Bestandteile einer ‚verschliffenen‘ (Alltags-)Sprache. Sie sind vor allem dort unverzichtbar, wo man die Sache selbst ohne sie überhaupt nicht verstehen kann, wie etwa in der Quantenphysik und in der Relativitätstheorie. In diesen wissenschaftlichen Disziplinen versagen sogar die Begriffe, und nur die Mathematik liefert eine Formelsprache, die zwar mehr schlecht als recht funktioniert, aber noch nicht einmal von den mit ihr hantierenden Experten verstanden wird. In der Alltagssprache aber können solche Disziplinen überhaupt nicht heimisch werden, wie Blumenberg am Beispiel der kopernikanischen Wende zeigt. Die „kopernikanische Reform“ habe „nichts an dem Fortbestand der vorkopernikanisch verfahrenden Sprache zu ändern“ vermocht; nämlich daran, daß wir die Sonne immer noch auf- und untergehen sehen, anstatt von der rotierenden Erde zu sprechen:
„Der Grund ist klar: Die Wahrnehmung wird niemals kopernikanisch.“ (Blumenberg 2019, S.174)
Es ist vielmehr so, daß die natürliche Grenze der menschlichen Sprache zugleich die natürliche Grenze des menschlichen Verstandes bildet. Wo sich die Menschen von wissenschaftlichen ‚Wahrheiten‘ á la Quantenphysik und Künstliche Intelligenz abhängig machen, kann das zu einer „bedrohliche(n) Illusion“ für ihr Handeln führen (vgl. Blumenberg 2019, S.174); einer Illusion, die die Urteilsfähigkeit der Menschen auf verhängnisvolle Weise untergräbt.

Auch bei der „nackten Wahrheit“ geht es also um mehr als bloß um die Objektivität einer Sache und um mehr als bloß um das Aufweisen von Fakten und Daten. Hans Blumenberg spricht mit der Wahrheitsproblematik ein Grundproblem unserer globalisierten Gesellschaft an. In ihr stehen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber: die einen glauben nicht mehr an die eine, alle Menschen gleichermaßen verpflichtende Wahrheit. Sie basteln sich ihre eigenen, gruppenspezifischen Wahrheiten und bezeichnen alles andere, was ihren Wahrheiten widerspricht, als Lüge bzw. neudeutsch als Fake.

Die anderen halten an einem wissenschaftlich begründeten Wahrheitsanspruch fest, den sie auch denen zumuten, die sich von ihm losgesagt haben oder die einfach damit überfordert sind, immer auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes und der Fakten zu sein. Die Vertreter und Agenten dieses Wahrheitsanspruchs gestatten ihnen keinen Zweifel an ihrem Wahrheitsanspruch.

Beide Gruppierungen schaden der Wahrheit. Und zwar einer ‚Wahrheit‘, die dem menschlichen Fassungsvermögen entspricht, ohne allerdings den Menschen in die Beliebigkeit zu entlassen. Denn gerade diese ‚menschliche‘ Wahrheit ist es, die uns tiefer zu bewegen und strenger in die Pflicht zu nehmen vermag als der vermeintliche Universalismus – der eigentlich nur ein Reduktionismus ist – des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs, der sich letztlich doch nur an einige wenige Experten richtet, den Laien aber außen vor läßt:
„Es sind die Verhüllungen, ihre lockenden Verborgenheiten und ihre prunkenden Auszeichnungen, die die menschliche Einbildungskraft in Betrieb setzen.“ (Blumenberg 2019, S.75)
Die reine Vernunft hingegen bewirkt nur „Bewegungslosigkeit“. (Vgl. Blumenberg 2019, S.75) Sie rüttelt uns nicht wach und vermittelt uns keine Motive.

In die Gegenwart übersetzt heißt das, die Bedeutung der Lebenswelt in einer durchdigitalisierten Gesellschaft, in der Quantenphysik und Künstliche Intelligenz im zunehmenden Maße unser Alltagsleben bestimmen und das Fassungsvermögen unseres Verstandes überfordern, neu hervorzuheben. Unserem Fassungsvermögen sein menschliches Maß zu lassen, in einer Lebenswelt, die uns stärkt und nicht schwächt, bildet keinen billigen Populismus; keine bequeme Rechtfertigung gruppenspezifischer Interessen. Es fordert vielmehr jedem Menschen die individuelle Anstrengung ab, sich für einen universalisierbaren Lebensstil einzusetzen, der ihn und seine Mitmenschen stärkt und künftiges Leben auf diesem Planeten nicht gefährdet, anstatt sich und die anderen zu betrügen. Das ist der heute noch aktuelle Kern des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant; eines Imperativs aber, der weniger kategorisch auf reine Vernunft als vielmehr menschlich auf die Begrenztheit des menschlichen Verstandes ausgerichtet ist.

Wir brauchen eine Alternative zu einer Wissenschaft, die sich institutionell von der Lebenswelt absondert, sich dabei aber abhängig macht von privatwirtschaftlicher Finanzierung. Eine solche Alternative sehe ich in den citizen scientists, den Bürgerwissenschaftlern, die Wegbereiter eines humaneren Wissenschaftsverständnisses sein könnten. Ein Vorbild für so eine kritische Bürgerwissenschaft bildet in meinen Augen die Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. Doch heute werden Bürgerwissenschaftler leider von den etablierten Wissenschaftseinrichtungen für Hilfsdienste wie das Zählen von Vögeln und Insekten unter Anleitung der ‚eigentlichen‘ Wissenschaftler vereinnahmt. So sinnvoll das jeweils auch sein mag: auf so billige Weise sollte man diese Professoren nicht davonkommen lassen. Transdisziplinarität beinhaltet mehr als vornehme Belehrung ‚von oben‘.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Institutionen sehe ich vor allem die Klimaforschung als positives Beispiel einer unabhängigen Wissenschaft. Ihr gegenüber steht diesmal leider die Begrenzung des ‚Immer so weiter‘ eines allzu bequemen Alltagsverstandes, der sich bereitwillig blind machen läßt für die offensichtlichen Anzeichen eines planetaren Kollapses. Es ist eben nicht einfach, sich in die Grenzen des menschlichen Verstandes zu bescheiden und sich zugleich der globalen Verantwortung für die Zukunft des Planeten zu stellen. Was wir brauchen ist eine zweite Naivität: eine Naivität, die um die Grenzen des Verstandes weiß und es sich dennoch nicht nehmen läßt, sich seiner zu bedienen.

Blumenberg bringt es mit Verweis auf Georg Christoph Lichtenberg in folgender Bemerkung auf den Punkt: „Es sei eben kein Betrug mehr, sobald ich es weiß.“ (Blumenberg 2019, S.174) – Dabei geht es nicht nur um diejenigen, von denen wir betrogen werden, sondern auch um uns selbst; denn es ist kein Betrug mehr, wenn wir um unseren Selbstbetrug wissen.

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