„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 16. Januar 2020

Vom Weblog zum Tagebuch

In Blumenbergs „Die nackte Wahrheit“ (2019) finde ich den von Lichtenberg inspirierten Gedanken:
„Dann wäre die Form, in der der Gedanke noch bei sich selbst ist, dem Verschleiß der Sprache noch nicht unterzogen, die fragmentarische Momentaufnahme des Notizbuches.“ (Blumenberg 2019, S.165)
Vorausgesetzt wird hierbei, daß wir das, was wir in unser Notizbuch schreiben, niemandem mitteilen, und daß wir alles, was wir anderen mitteilen, in Worten mitteilen müssen, die vom vielen Gebrauch schon so verschlissen sind, daß sie beim Anderen nicht so ankommen, wie wir sie gemeint haben. Unschwer ist hier Plessners Feststellung wiedererkennbar, daß es eine unüberbrückbare Differenz zwischen Sagen und Meinen gibt.

Worte, die wir niemandem mitteilen, sondern in unser Notizbuch schreiben, sind hingegen, so Blumenberg, immer so gemeint, wie wir sie schreiben – solange sie nur von niemandem als uns selbst gelesen werden. So ein Notizbuch mit seinen fragmentarischen Momentaufnahmen unseres Denkens ist aber letztlich auch jedes Tagebuch. Indem ich ein Tagebuch führe, bleiben meine Gedanken bei mir und damit bei sich selbst. Vielleicht ist es sogar so, daß nicht nur die Gedanken auf diese Weise unverbraucht und frisch bleiben, sondern auch ich selbst? Ich denke, also bin ich. Aber: ich schreibe Tagebuch, also bleibe ich (jung).

In diesem Sinne ‚jung‘ bleibt auch der Gedanke, den wir in unserem Tagebuch notieren, da er, wie Blumenberg festhält, rhetorisch nicht auf den Zweck der Mitteilung hin perfektioniert wird. Im Notizbuch verharrt er also im Entwurfsstadium. Dieses Entwurfsstadium bildet also gewissermaßen seine ‚Jugend‘, während die Mitteilung seine ‚Reife‘ wäre und sein Mißverstandenwerden, seine Verschlissenheit, wäre dann sein Alter.

Es sei denn, der Gedanke findet in der Fortführung des Tagebuches über einen längeren Zeitraum hin die Möglichkeit, sich zu entwickeln: nicht auf die Mitteilung hin, sondern aus sich selbst heraus! Und zwar ohne sich dabei zu verschleißen.

Natürlich ist Schreiben aber immer auch Mitteilung. Deshalb gibt es auch keine Gedanken ohne Mitteilung; nicht mal im Tagebuch. Denn ins Tagebuch zu schreiben ist Mitteilung an sich selbst und bedeutet die einmalige Chance, die eigenen Worte für einen Gedanken zu finden. Worte, die sich noch nicht verbraucht haben.

Deshalb bezeichne ich mein Tagebuch als Apscript, als eine geschriebene Form der Apperzeption. Letztlich ist das eine Konsequenz aus meinen Erfahrungen mit meinem Weblog. Ich hatte ursprünglich, vor etwa zehn Jahren, mit meinem Blog auf viele Kommentare und Rückmeldungen von den Besuchern meines Blogs spekuliert. Daraus ist nichts geworden. Stattdessen schrieb ich einsam vor mich hin und sah mir dabei selbst zu. Die große Überraschung war, daß das nicht etwa bloß zu einer geistigen Selbstbefriedigung führte, sondern mich geistig bereicherte und weiterbrachte.

Mit anderen Worten: der Weblog bildete eine Form der Apperzeption, die auch unabhängig von einem online-Publikum funktionierte. Es ist also nur konsequent, mich von meinem Weblog zu verabschieden und stattdessen ein richtiges analoges Tagebuch zu führen, also mich schreibend selbst zu beobachten.

Kants „Ich denke“, das alle unsere Wahrnehmungen begleiten können soll, bildet nicht nur eine Form des Festhaltens und der Inbesitznahme. Es beinhaltet zugleich auch ein Weiterdenken unserer selbst. Indem wir uns selbst denkend beobachten, werden wir nicht einfach nur unserer selbst gewiß, sondern wir beginnen einen Entwicklungsprozeß, in dem wir wir selbst werden.

Die Apperzeption ist der Weg, den wir gehen, bzw. der Weg, der wir sind. Wir sind, was wir sein werden. Apperzeption! Wir denken uns selbst auf unsere Wahrnehmungen hin und von unseren Wahrnehmungen her auf uns selbst zurück: ein auf eine offene Weite gerichteter Umlauf; nichts von heilig.

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