„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 21. April 2019

Ertrag




Neun Jahre Erkenntnisethik liegen hinter mir und versinken im vom Meer aufgewühlten Sand. Noch ein Jahr.

Es sind vor allem fünf Gedanken, die ich diesem Blog verdanke.

Der erste Gedanke ist anthropologisch und stammt von Helmuth Plessner: der Mensch ist exzentrisch positioniert. Ich beziehe Plessners These auf das Zusammenspiel von drei Entwicklungsebenen, die als Ganzes einen Menschen ergeben, also auf biologische, auf kulturelle und auf individuelle Entwicklungsprozesse. Diese drei Entwicklungsprozesse bilden aufgrund ihrer unterschiedlichen Zeitlichkeit – biologisch: Jahrhunderttausende; kulturell: Jahrtausende; individuell: ein Menschenleben – einen Anachronismus. Sie stimmen also in ihrer Zeitlichkeit nicht überein, und jede Entwicklungsebene versucht, die jeweils anderen beiden zu dominieren. Das macht den Menschen einerseits zu einem Wesen jenseits von Gut und Böse; und andererseits zwingt es ihm eine Verantwortung auf, die er an keine Gruppe delegieren kann und der er sich nur als Individuum stellen kann.

Mein zweiter Gedanke ist semantisch: nur Wörter und Sätze haben Bedeutung, insofern sie auf ein Subjekt verweisen, das nicht mit ihnen identisch ist. Bedeutung basiert auf der Differenz von Sagen und Meinen. Wo Sagen und Meinen zur Deckung kommen, wie in Algorithmen und mathematischen Zeichen, werden diese Zeichensysteme bedeutungsleer und damit bedeutungslos.

Mein dritter Gedanke ist soziologisch. Ich unterscheide mit Michael Tomasello zwischen Zweit- und Drittpersonalität. Zweit- und Drittpersonalität bilden zwei völlig unterschiedliche und voneinander unabhängige Sozialformen. Zwischen Ich und Du auf der Ebene der Zweitpersonalität spielen sich völlig andere soziale Prozesse ab als zwischen Ich und Du auf der Ebene der Drittpersonalität. Der Mensch ist in der Gruppe ein anderer Mensch, so sehr, daß ich mich allen Ernstes frage, ob er überhaupt noch ein Mensch ist. Menschheit, als human gehaltvoller Begriff, basiert auf Zweitpersonalität, weil nur hier nicht exkludiert wird. Es sind immer nur Gruppen, die sich voneinander abgrenzen.

Mein vierter Gedanke ist phänomenologisch: alles menschliche Wissen basiert auf Gestaltwahrnehmung. Die Gestaltwahrnehmung haftet an Oberflächen und differenziert sich nach Vordergrund und Hintergrund, und nach Vorderseite und Rückseite. Diese Wahrnehmungsformen begründen und begrenzen unser Wissen, das Wissen, auf das es ankommt. Es sind vor allem die Geisteswissenschaften, die sich mit dieser Art Wissen befassen. Die Naturwissenschaften haben diesen Weg verlassen und sich einem Wissen zugewandt, das nur noch nominell ‚empirisch‘, tatsächlich aber post-empirisch, letztlich post-faktisch orientiert ist. Sie sind nicht mehr an Phänomenen und folglich auch nicht mehr am Menschen interessiert.

Mein fünfter Gedanke ist es, dem Phänomenalismus einen Strukturalismus gegenüberzustellen. Mit ‚Struktur‘ meine ich zunächst eine Abstraktionsform der Gestalt, die sich berechnen läßt. Hinzu kommt eine hermeneutische Dimension, die die Struktur als ein Moment von Texten versteht, in denen der Sinn nicht mit dem geschriebenen oder gesprochenen Wort identisch ist, sondern nur vom Textganzen her erschlossen werden kann. Anders als die strukturalistische Abstraktionsform, die sich nur für das mathematisierbare Moment des menschlichen Weltverhältnisses interessiert, ist der hermeneutische Strukturalismus mit einer phänomenalen Einstellung zur Welt vereinbar. Eine Verbindung von Hermeneutik und Phänomenologie könnte man auch als phänomenale Strukturanalyse bezeichnen. In ihr geht es vor allem um innere Bewußtseinsgegenstände und ihre narrative Struktur. Ein solcher hermeneutischer Strukturalismus basiert auf der Differenz von Sagen und Meinen und hat nichts mit der strukturalistischen Abstraktionsform mathematischer Welterklärungsmodelle gemein.

Ich glaube, ich kann zufrieden sein, in meinem Leben immerhin fünf Gedanken gedacht zu haben. Unter diesen Gedanken ist der Anachronismus mein schönster. Er bedeutet, daß Adorno Unrecht hat. Es gibt ein richtiges Leben im falschen! Dieser Gedanke macht, daß die Möwe fliegt.
(Es gibt noch einen sechsten Gedanken, und auf den komme ich im letzten Blogpost in einem Jahr zu sprechen.)
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