„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 3. April 2019

Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften: 1981-1988, hrsg.v. Nicola Zambon, Berlin 2018

1. Sorge und Hiatus
2. Fugen, Poren und Hiatus
3. Apperzeption und Appräsentation

Als Husserl nach seiner transzendental-phänomenologischen Periode versuchte, die ursprünglich aus der Meditation ausgeschlossene Welt wieder in diese Meditation miteinzubeziehen, wandte er sich der Problematik der Lebenswelt und der Intersubjektivität zu. Die Basis der subjektiven Anschauungen war geklärt: sie bestand in der Gewißheit des Cogito – ich denke, also bin ich –, umgewandelt in die Kantsche Apperzeptionsgewißheit, die es dem denkenden Subjekt ermöglicht, sich selbst in seinen verschiedenen Lebensvollzügen zu beobachten. Mit der Welt, der gemeinsamen Welt von interagierenden Subjekten, entstand für die Phänomenologie aber nun eine neue Gewißheitsproblematik: woher weiß ego, daß alter ego ebenfalls apperzipiert?

Ich habe nur die Gewißheit meiner selbst, so wie jedes andere Ich ebenfalls nur die Gewißheit seiner selbst hat. Die Gewißheit des jeweils anderen bleibt uns fremd. Wie also ist die Fremdwahrnehmung der Selbstgewißheit anderer Ichs wie ich selbst möglich? Husserls Antwort: durch Appräsentation, also durch „Mitvergegenwärtigung des Subjekts“ im anderen Leib. (Vgl. Blumenberg 2018, S.491) Appräsentation ist im Grunde nichts anderes als Apperzeption bezogen auf die inneren Zustände des fremden Menschen. Ich weiß, daß meine Mitmenschen beseelt sind, weil ich von mir selbst weiß, daß ich beseelt bin.

Jetzt stellt sich aber immer noch die Frage, von welcher Art die Anschauung ist, die ich der Fremdwahrnehmung als Appräsentation zugrundelege? Eine mögliche Antwort darauf wäre, daß ich mir selbst als einem fremden Ich begegne und diese Fremdwahrnehmung meiner selbst auf meine Mitmenschen übertrage:
„Husserl hat die Vorstellung gelegentlich berührt, ohne sich für sie zu entscheiden, das Ich könne sich selbst in der Erinnerung als das erinnerte Ich eines erinnerten Erlebnisses zum ‚anderen Ich‘ werden. ... Ohne diesen anschaulichen Vorgriff der inneren Erfahrung könnte keine äußere Erfahrung jemals die Qualität der Fremderfahrung annehmen ...“ (Blumenberg 2018, S.386f.)
Blumenberg verallgemeinert diese Fremderfahrung, indem er sie auf alle inneren Erfahrungen überträgt, „insofern jedes Ich sich nur in der Form des inneren Sinnes als Erscheinung gegeben ist, sich sogar als freies Subjekt nicht unmittelbar zugänglich werden kann, sondern nur über das Faktum des sittlichen Sollens als freies Subjekt zu erschließen vermag“. (Vgl. Blumenberg 2018, S.387)

Diese Feststellung kommt nah an Plessners anthropologischen Fundamentalsatz heran, „daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol“. (Vgl. Helmuth Plessner, Stufen des Organischen (1928/1975), S.298f.)

Die innere Anschauung ist also Blumenberg zufolge – trotz cogito – zweifelhaft. Stattdessen schlägt er vor, die Fremdwahrnehmung des anderen Menschen mit der Dingwahrnehmung zu vergleichen. Auch in der Dingwahrnehmung sehen wir den physischen Dingen wie etwa einem Stein mehr an, als der bloße Anblick herzugeben scheint, etwa die Schwere des Steins und die Möglichkeit, ihn als Wurfgeschoß zu benutzen. (Vgl. Blumenberg 2018, S.493) Auch das ist eine Appräsentation, nämlich eine „Mitvergegenwärtigung“ der Schwere und der Wucht eines einmal in Bewegung versetzten Steins, den man vorläufig nur regungslos daliegen sieht:
„Dieses präsumtive Moment am Sehen ist es, das die Verbindung zur Appräsentation herstellt.“ (Blumenberg 2018, S.493)
Die Schwere des Steins gehört zu der „Fülle“, die einen Gegenstand, den man wahrnimmt, bei näherer Beschäftigung mit ihm eröffnet, nämlich eine Fülle von Eigenschaften, die beim ersten Anblick noch nicht gesehen werden, die man dem Gegenstand aber ‚ansieht‘. (Vgl. Blumenberg 2018, S.494) Diese Fülle ist mit dem Gegenstand ‚mitgegeben‘.

So ist das auch mit unseren Mitmenschen: wir ‚sehen‘ ihnen ihre Selbstgegebenheit, ihre Subjektivität, ‚an‘. Dieses Ansehen ist Blumenberg zufolge kein bißchen problematischer als die Fülle der Eigenschaften, die uns die Dingwahrnehmung eröffnet. Blumenbergs „Ansehen“ erinnert an Emanuel Levinassens Antlitz, das dieser aber nicht auf Dinge bezieht, sondern für Menschen reserviert.

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