„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. April 2019

Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften: 1981-1988, hrsg.v. Nicola Zambon, Berlin 2018

1. Sorge und Hiatus
2. Fugen, Poren und Hiatus
3. Apperzeption und Appräsentation

Immanuel Kant hat Descartes’ cogito als Apperzeption gefaßt. Umfaßte Descartes’ cogito noch alle inneren Zustände eines Subjekts, so spaltet Kant das Denken als Apperzeption von diesen inneren Zuständen ab und versetzt es in eine andere Dimension. Er transzendentalisiert das Denken, was Blumenberg als „geniales Stück“ der Kantschen „Rezeption des cartesischen Cogito“ bezeichnet. (Vgl. Blumenberg 2018, S.80) Kants Version des cogito verwandelt das Denken in einen Beobachter: seine eigenen inneren Zustände – zu denen auch die Wahrnehmung der Außenwelt gehört – beobachtend nimmt das Subjekt sie in seinen Besitz; es wird sich ihrer bewußt.

Blumenberg weist dabei darauf hin, daß diese Beobachtung nicht als Reflexion bewußt vollzogen werden muß. Das ‚Ich denke‘ muß unsere inneren Zustände lediglich begleiten können: Der „Ton“, so Blumenberg, liegt „eher noch mehr auf dem ‚können‘ als auf dem ‚begleiten‘“. (Vgl. Blumenberg 2018, S.384) Schon die bloße Möglichkeit des Denkaktes ermöglicht Blumenberg zufolge die „Hinzufügung des Possessivpronomens“ zu meinen inneren Zuständen. (Vgl. Blumenberg 2018, S.385)

Aus diesem Umstand folgert Blumenberg aber ein Bewußtsein, das nicht fließt oder strömt, also kein kontinuierliches Bewußtsein, sondern ein diskontinuierliches Bewußtsein; nämlich ein diskretes Nacheinander von Bewußtseinzuständen und reflexiven Akten. Denn die Reflexion, so Blumenberg, könne mit den anderen Bewußtseinszuständen nicht gleichzeitig sein. (Vgl. Blumenberg 2018, S.384) Stattdessen müsse man sich ein intermittierendes Bewußtsein vorstellen, das aus einander abwechselnden Bewußtseinszuständen besteht, aus intentionalen Vollzügen und aus ihnen nachfolgenden Denkakten. (Vgl. Blumenberg 2018, S.385f.)

Die Vorstellung, daß wir es hier mit zwei verschiedenen Bewußtseinsebenen zu tun haben, die einander begleiten (was Kontinuität im Bewußtseinsleben zulassen würde) und nicht einander nachfolgen (was Diskontinuität impliziert), wird von Blumenberg an dieser Stelle nicht in Betracht gezogen: die „Nicht-Kontinuität des Bewußtseins“, so Blumenberg, schließt die „Metapher als Strom oder Strömung“ aus. (Vgl. Blumenberg 2018, S.391)

Blumenberg verweist auf den genetischen Zusammenhang dieses Bewußtseinskonzepts mit dem Reflexbogen, bei dem auf Reizen immer Reaktionen folgen. Er vergleicht das mentale „Gefüge von Akt und Inhalt“ mit dem von „Auslöser und Bewegung“. (Vgl. Blumenberg 2018, S.390) In die unmittelbare, spontane Folge von Auslöser und Bewegung tritt nun eine Verzögerung ein, und es kommt nicht gleich zur ausführenden Bewegung:
„Reflexion wäre dann nichts anderes als die Verstärkung dieser rudimentären, entphysiologisierten, entdynamisierten Reaktionen zu einer eigenen Sphäre von immanenter Ausdrücklichkeit.“ (Blumenberg 2018, S.390)
Die Verzögerung im Reflexbogen läßt also Raum für Reflexion, und so entsteht ein intermittierendes Bewußtsein. Den Hervorgang des Bewußtseins aus der Verzögerung des Reflexbogens beschreibt Blumenberg nun aber paradoxerweise als eigentümlich kontinuierlichen Prozeß des Einsickerns in eine poröse Struktur:
„Das intentionale Bewußtsein ist ein ‚Organ‘ diskreter Konsistenz. Der symbolische Kontext der Affektion, den es entgegennimmt, ist so porös mit Intervallen ausgestattet, daß die identische Lebendigkeit des Subjekts in diese Porosität eindringt. Die Wahrnehmung als selbsteigene wird nicht durch bloße Synthesis adaptiert, sondern durch das Eindringen in die Fugen ihrer elementaren Symbole.“ (Blumenberg 2018, S.388)
Das Bewußtsein fließt also doch, nämlich in die Lücken des porösen Wahrnehmungsprozesses, der zu keinen spontanen Handlungen mehr führt.

Aber lassen wir die Wortklauberei. Es bleibt dabei, daß Blumenberg zufolge das Bewußtsein intermittiert: auf Reize folgen keine physischen Reaktionen mehr, sondern mentale Reflexionen. Blumenberg könnte sich auf neuere neurophysiologische Erkenntnisse berufen, denen zufolge das Kernselbst im zwei bis drei Sekundentakt ‚pulsiert‘. (Vgl. Antonio Damasio: „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.155f. und Raoul Schrott & Arthur Jacobs: „Gehirn und Gedicht“ (2011), S.33 und S.56) Auch Dekonstruktivisten wie Slavoj Žižek argumentieren mit Lücken im Bewußtseinsprozeß; und zwar als Lücken zwischen Symbolen, die jeweils immer nur das sind (bedeuten), was die anderen nicht sind (bedeuten). (Vgl. Slavoj Žižek: „Disparitäten“ (2018)) Übrigens werden Žižek zufolge diese Lücken zwischen den Symbolen von Phantasmen ausgefüllt, was dem in die porösen Strukturen der Intermittenz einsickernden Bewußtsein („identische Lebendigkeit“) bei Blumenberg entspricht.

Aber der Dekonstruktivismus hebt die Differenz von Innen und Außen auf: Lücken gibt es nicht mehr zwischen uns und der Welt, sondern nur noch zwischen den Symbolen, nämlich als digitale Negation, derzufolge ein Symbol immer das ist, was die anderen nicht sind. Das Bewußtsein funktioniert wie eine Informationsverarbeitungsmaschine. Aber die neurophysiologischen Ergebnisse entsprechen nicht dem subjektiven Erleben. Und was ist eine Phänomenologie noch wert, wenn sie das subjektive Erleben nicht mehr ernst nehmen will?

Es ist natürlich richtig, daß es Vollzüge wie das Schlafen und das Aufwachen gibt, bei denen wir nicht denkend dabei sein können. Auch Handlungsvollzüge wie ein Gespräch sind oftmals ‚gedankenlos‘ im durchaus nicht-pejorativen Sinne. Wenn wir in so eine Begegnung mit anderen Menschen ganz vertieft sind, geradezu absorbiert, so sind Denkakte eher störend. Das gilt darüber hinaus auch für Automatismen und Routinen wie z.B. Fahrradfahren oder Lesen. Wollten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Automatismen konzentrieren, würden sie nicht mehr funktionieren.

Das heißt aber nicht, daß Erlebnisvollzüge und Denkakte nur getrennt voneinander stattfinden können, im Sinne der Eule der Minerva, die nur in der Dämmerung fliegt. Für das Fahrradfahren gilt, daß es das Denken nicht etwa stört, so wie umgekehrt das Denken das Fahrradfahren stören würde, sondern es im Gegenteil anregt. Schon die Peripatetiker und die Stoiker der Antike wußten das Herumwandeln in ihren Gärten und Hallen zu schätzen, weil Bewegung und Denken eng zusammenhängen. Auch wenn wir ein Erlebnis nicht einfach nur vollziehen, sondern es bewußt genießen, wie z.B. das Betrachten eines Bildes oder einer Landschaft, so stört auch da das Denken keineswegs, sondern es gehört dazu, indem wir bewußt einzelne Momente des Bildes oder der Landschaft hervorheben und den Rest in den Hintergrund treten lassen und uns dennoch alles, was im Hintergrund verbleibt, verfügbar halten, um alles besser miteinander vergleichen zu können.

Hier haben wir es mit einer Kontinuitätserfahrung zu tun, nicht mit einer Diskontinuität, und Blumenberg schließt zu Unrecht das Panorama aus seinem Bewußtseinskonzept aus:
„Das Panorama ist ein Kontinuum, der symbolische Kontext ein Diskretum, das für intermittierende Akte und für den Zeittakt die phänomenale Grundlegung gibt.“ (Blumenberg 2018, S.391)
Letztlich entspricht Blumenbergs diskontinuierliches Bewußtsein mit seinen diskreten Akten dem symbolischen Kontext eines gegliederten Satzes. Aber noch die Subjekt-Prädikat-Struktur eines Satzes beruht auf den kontinuierlichen Dynamiken beim Betrachten von Bildern, also auf Gestaltwahrnehmung.

Wenn es eine Lücke im Bewußtseinsprozeß gibt, dann nur im Singular, nämlich im Sinne des Plessnerschen Hiatus, und nicht im Plural einer durch Fugen gegliederten symbolischen Struktur, wie bei den aneinandergereihten Einzelbildern eines Celluloidfilms. Das Bewußtsein geht nicht aus dem Einsickern in poröse Strukturen organischer Prozesse hervor, sondern aus dem Scheitern seiner Intentionen. Erst dort, wo sich unsere Bedürfnisse nicht mehr ‚von der Hand in den Mund‘ erfüllen, werden wir uns unserer selbst bewußt und dazu befähigt, unseren inneren Zuständen ein Ich-denke hinzuzufügen, so wie man den Bildfolgen eines Celluloidfilms eine Tonspur hinzufügt. Nichts spricht gegen diese Gleichzeitigkeit und dafür unser inneres Erleben.

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