„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 1. April 2019

Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften: 1981-1988, hrsg.v. Nicola Zambon, Berlin 2018

1. Sorge und Hiatus
2. Fugen, Poren und Hiatus
3. Apperzeption und Appräsentation

Ich hatte immer ein Problem mit Husserls „Wesensschau“ gehabt. (Vgl. hierzu auch meine Blogposts vom 13.06.21.06. und 13.07.2010) Mein Problem war, daß ich keine Anschauung des Wesens besaß und auch heute noch nicht besitze, insbesondere wenn es sich um mathematische Wesenheiten handelt, von denen Zahlen und geometrische Gebilde wie das Dreieck noch die einfachsten sind. Da kann ich noch mithalten. Aber was seit Pythagoras und Euklid aus der Mathematik geworden ist, entzieht sich für mich jeder Anschaulichkeit.

Nun stoße ich in dem von Nicola Zambon herausgegebenen Buch „Phänomenologische Schriften: 1981-1988“ (2018) von Hans Blumenberg auf die bemerkenswerte Feststellung:
„Wer sich der beanspruchten Wesensschau widersetzte, hatte sie eben nicht!“ (Blumenberg 2018, S.35)
Mit anderen Worten: man kann niemanden zu einer Anschauung zwingen, die er nicht hat, auch wenn eine Mehrheit von Experten behauptet, daß es diese Anschauung gebe. Denn im Bereich der Anschauung ist das Konsensprinzip, das einem Konsenszwang entspricht, außer Kraft gesetzt:
„Dieses Ideal, aus den Vielen nichts als Eines sich zusammenraufen und konvergieren zu lassen, ist wegen seiner heimlichen oder offenen Teleologizität bedrohlich: Im Maße des Erfolges auf den schönsten Konsens hin wird sich das Bewußtsein in gegenläufiger Richtung zu seiner primären Monstrosität sekundär zum Feind: Es dementiert die Berechtigung des Faktums, mehr als eines – und damit immer: jetzt und hier gerade dieses – zu sein.“ (Blumenberg 2018, S.34) 
„Primäre Monstrosität“ übersetze ich mit ‚falsch verstandene Einheit des Bewußtseins‘; und zwar immer dann, wenn reale Mannigfaltigkeit zu einem idealen Einheitsbrei vermanscht wird. Dann nämlich wird sich das Bewußtsein „sekundär zum Feind“: es beschädigt sein Verhältnis zur Welt.

Blumenberg geht es hier zunächst vor allem um die Vielgestaltigkeit von scheinbar schlichten Fakten. Aber die Vielgestaltigkeit der Fakten beruht auf der subjektiven Differenz von individuellen Perspektiven, die sich intersubjektiv nicht aufheben läßt. Das gilt auch für das vollständige Fehlen solcher Perspektiven, also für das Fehlen einer Anschauung. Was ich nicht mit meinen eigenen Augen sehe, kann ich auch nicht beurteilen. Und auch das Urteil der anderen hilft mir nicht weiter. Wo mir die Anschauung fehlt, kann sie durch keinen Konsens erzwungen werden.

Dabei muß man sich klarmachen, daß die Wesensschau als Anschauung sogar für geübte Wesensschauer einen besonders prekären Status hat: sie ist eine Anschauung, der die Anschauung prinzipiell fehlt! Selbst geübte Wesensschauer, also die klassischen Phänomenologen in der Nachfolge Husserls, gestehen ein, daß es sich bei der Wesensschau „um eine besondere Art von Erfahrung“ handele, da es dabei ja auch um „eine besondere Art von Gegenständen“ gehe. (Vgl. Blumenberg 2018, S.55) Blumenberg hält dagegen, daß es völlig gleichgültig sei, inwiefern die Wesensschau etwas Besonderes sei, „da sie als Erlebnis gar nicht vorkommt“. Tatsächlich werden ihre Gegenstände nicht ‚geschaut‘, sondern nur indirekt aus bestimmten Bewußtseinsleistungen erschlossen, wie etwa die Zahlen aus dem Zählen. (Vgl. ebenda)

Die Wesensschau ist also keine Anschauung, sondern nur ein logischer Schluß, also bestenfalls nur eine indirekte Anschauung, der kein unmittelbares Erleben entspricht.

Deshalb ist die Wesensschau auch nichts für jedermann. Sie bedarf einer besonderen strengen Disziplin:
„Sie verlangt genauso Erlernen, Einübung, Meditation, lebenslangen Sachverstand wie irgendein anderes theoretisches Geschäft ...“ (Blumenberg 2018, S.57)
Blumenberg geht es mit seiner Kritik an Husserl nicht nur darum, den phänomenologischen Status der Wesensschau zu klären. Darüber hinaus plädiert er auch für eine Lockerung der Disziplin. Er führt Husserls frühe Phänomenologie der Wesensschau auf dessen Weigerung zurück, den Menschen als Menschen ernstzunehmen. Das Bewußtsein sollte universell sein, nicht menschlich. Blumenberg spricht von einer „Idiosynkrasie des Meisters gegen jede anthropologische ‚Zutat‘“. (Vgl. Blumenberg 2018, S.19) Für diese Idiosynkrasie steht die Problematik der Wesensschau, da es in ihr auf den Menschen und seine subjektive Anschauung nicht ankommen soll. Um den Anforderungen der Wesensschau zu genügen, bedarf es seiner Disziplinierung zum transzendentalen Ego.

Im Nachwort beschreibt der Herausgeber Nicola Zambon Blumenbergs Motivation:
„Blumenbergs Anthropologie fußt also auf der kritischen Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Edmund Husserls. Dies mag überraschen, insofern Husserl auf die Frage nach dem Menschen bewußt verzichtet hatte: Seine Vorbehalte wurzelten in der Angst, die Philosophie auf die Anthropologie reduziert, das heißt, die Frage nach Gültigkeit der Erkenntnis an die biologische, psychologische, kulturelle Konfiguration ‚Mensch‘ gebunden zu sehen.“ (Zambon in Blumenberg 2018, S.512)
Mit der phänomenologischen Reduktion ging bei Husserl also eine Abwendung von allem einher, was den Menschen ausmacht und was ich in meinem Blog als die drei Entwicklungsebenen bezeichne. Das Husserlsche Bewußtsein sollte damit nichts zu tun haben und in diesem Sinne transzendental sein. Blumenberg tritt hingegen für eine Lockerung der phänomenologischen Disziplin ein, um den Horizont des Phänomenologen zu erweitern. Es geht ihm darum:
„Bewußtsein als Leben mit anderen Mitteln zu verstehen – dann aber im Grunde mit demselben Grundproblem, dem der Selbsterhaltung.“ (Blumenberg 2018, S.20)
Das Thema der Selbsterhaltung wird von Blumenberg in zwei Richtungen entwickelt: er übernimmt Martin Heideggers Begriff der Sorge (vgl. Blumenberg 2018, S.91-108), und er beschreibt das Bewußtsein als „Selbstreparaturbetrieb“ (vgl. Blumenberg 2018, S.15-38).

An drei Stellen bezieht sich Blumenberg auf Helmuth Plessner. (Vgl. Blumenberg 2018, S.50f., 96, 466f.) In keiner dieser Bezugnahmen kommt Blumenberg auf Plessners gebrochene Intentionalität zu sprechen. Wo bei Plessner sich das menschliche Bewußtsein durch das Festhalten am Scheitern des Weltbezugs allererst gewinnt, nämlich in einer Rückwendung auf sich selbst und sein prekäres Weltverhältnis, hebt Blumenberg vor allem die biologische Dimension der Selbsterhaltung hervor. Das Bewußtsein überwindet den Bruch, den Blumenberg auch als „minimale Katastrophe“ bezeichnet (vgl. Blumenberg 2018, S.32), indem es seinen Weltbezug modifiziert und sich so weiterentwickelt:
„Entwicklung läßt sich begreifen als komplementärer Sachverhalt dazu, daß es störungsfreie organische Systeme nicht gibt.“ (Blumenberg 2018, S.27)
Blumenberg schreibt dem Bewußtsein einen „hohen Grad“ an „Elastizität“ zu und rühmt dessen „Strapazierfähigkeit für das Einlaufen bzw. Ausbleiben der intentionalen Teilstücke, Elemente, offenstehenden Debita und Desiderata zur klärenden Endgültigkeit des Gegenstandsbesitzes“. (Vgl. Blumenberg 2018, S.32) Wo Plessner also die Bedeutung des Bruchs maximiert und letztlich alle entscheidenden Bewußtseinsleistungen auf diesen Bruch zurückführt, minimiert Blumenberg seine Bedeutung und hebt vor allem die Selbsterhaltungsfähigkeit des Bewußtseins hervor.

Natürlich könnte man einwenden, daß beides letztlich auf dasselbe hinausläuft: denn ein Selbstreparaturbetrieb kann das Bewußtsein ja nur sein, weil es ständig scheitert. Letztlich hat der Hiatus bei Plessner und Blumenberg dieselbe konstitutive Relevanz. Aber es bleibt doch die nicht unwesentliche Differenz, daß Plessner den Begriff der Bedeutung auf dieses Scheitern zurückführt, auf die Differenz von Sagen und Meinen. Nur weil sich unsere Intentionen in der Welt nicht erfüllen, hat alles was wir sagen und tun eine Bedeutung.

Für Plessner wäre Heideggers Sorge also nur eine Form der Selbstsedierung. Denn, anders als Heidegger gedacht hatte, hindert gerade die Angst vor dem Tod den Menschen im Sinne der Sorge – besser: ‚Daseinsvorsorge‘ – daran, sich mit seinem Weltverhältnis auseinanderzusetzen und so sich über sich selbst aufzuklären; sich exzentrisch zu positionieren. Blumenberg argumentiert hingegen mit Heidegger, daß das Dasein bzw. der Mensch „auf seinem Grunde“ Sorge sei. (Vgl. Blumenberg 2018, S.95) Die Sorge erweist sich dabei sogar als ein Gegenbegriff zum intentionalen Bewußtsein, das „seine Geschichte wesentlich hinter sich“ hat – nämlich als seinen Protentionen zugrundeliegende Retention –, während die Sorge auf die (bedrohliche) Zukunft gerichtet sei. (Vgl. Blumenberg 2018, S.100) Allerdings halte ich Blumenbergs Schlußfolgerung von der Retentionslastigkeit der Intentionalität auf deren Rückwärtsgewandtheit für überzogen. Gestalttheoretisch ist die Retention als Bestandteil des intentionalen Vollzugs nichts anderes als die andauernde Gegenwärtigkeit des Hintergrundes, vor dem wir einzelne Aspekte fokussieren. Auch die Sorge hätte ohne entsprechenden Hintergrund keinen Horizont, auf den sie sich richten könnte.

Die Sorge erfüllt bei Blumenberg eine ähnliche Funktion wie Plessners Hiatus, nämlich die Begrenzung der Reichweite der Intentionalität. Wo das Bewußtsein als Intentionalität maßlos ist, keinen Anfang und kein Ende kennt und in dieser Maßlosigkeit der Welt ähnelt, auf die sich das intentionale Bewußtsein richtet und die sich ebenfalls ohne Anfang und Ende ausdehnt und alles umfaßt, was es gibt, begrenzt die Sorge das Bewußtsein, weil der Mensch sterblich ist und wir deshalb Maßnahmen ergreifen müssen, um uns zu schützen und abzusichern. Sie setzt unserer Maßlosigkeit Grenzen.

Aber anders als das scheiternde Bewußtsein Plessners, das aus seinem naiven Weltverhältnis erwacht und zu sich selbst findet, zu einer zweiten Naivität, die von ihrer Naivität weiß, sind die Vorkehrungen der Sorge darauf ausgerichtet, die Welt sicherer zu machen, also sie zu verlebensweltlichen, denn die Lebenswelt ist eine Welt, „in der dem Bewußtsein Enttäuschungen seiner Protention erspart oder jedenfalls auf das Minimum reduziert bleiben“:
„Deshalb kann die Lebenswelt stehen für den Begriff einer Welt überhaupt, deren einzige Qualifikation in ihrer möglichen Vertrautheit, also im Maß der Solidität ihrer Zuverlässigkeit oder, negativ ausgedrückt, im Ausbleiben des Fremd-Befremdlichen an ihrem Horizont beschreibbar ist.“ (Blumenberg 2018, S.43)
Auch die scheinbar so nüchterne, objektive Wissenschaft hat ihren Anteil an dieser Verlebensweltlichung der Welt. Sie steht im Dienst der Sorge, wie Blumenberg in folgendem Zitat feststellt, in dem übrigens auch die Bedrohtheit sogar der Stabilität und Vertrautheit gewährleistenden Lebenswelt erwähnt wird:
„Die Theorie der Lebenswelt macht verständlich, weshalb die Behauptung letztlich unhaltbar ist, das theoretische Verhalten, die wissenschaftliche Einstellung würden von einer triebhaften Energie der theoretischen Neugierde angetrieben. ... Neugierdeverhalten ist Prävention, Prävention in bezug auf die Wiederholung der Grunderfahrung der Instabilität der Lebenswelt. Und jede Lebenswelt ist instabil, weil sich das Unbekannte nicht damit begnügt, irgendwo darauf zu warten, daß es entdeckt wird, sondern seinerseits über den Horizont der Lebenswelt in diese eindringt und einbricht.“ (Blumenberg 2018, S.43f.)
Wenn also nicht die Erfahrung des Scheiterns, sondern die Sorge die Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins ausmacht, so ist alles daran gelegen, das Aufwachen zu vermeiden. Die Reparaturleistungen des Bewußtseins richten sich darauf, sich zu sedieren, auf den Erhalt der Lebenswelt. Blumenberg selbst gesteht dies ein:
„Es (das Bewußtsein – DZ) ist sich selbstverständlich und setzt darin den Standard derjenigen Selbstverständlichkeit, die als Prämodalität der Lebenswelt die genuine und finale Daseinsform des Bewußtseins ausmacht.“ (Blumenberg 2018, S.135)
Die Lektüre des Buches ist schwierig, weil Blumenberg in der Auseinandersetzung mit Husserl das transzendental-phänomenologische Begriffsinventar verwendet, das an sich schon für den unkundigen Leser undurchschaubar ist. Außerdem ergeht sich Blumenberg lustvoll in verschraubten und verschachtelten Satzkonstruktionen, die der Rezensent nur wegen der darin immer wieder aufblitzenden Ironie einigermaßen zu ertragen vermag. Es ist kein wirkliches Vergnügen so was zu lesen.

Trotzdem lohnt sich die Lektüre, weil Blumenberg in den darin versammelten, bislang unveröffentlichten Schriften minutiös darlegt, inwiefern Husserls Phänomenologie überwunden werden muß, nämlich in Richtung einer phänomenologischen Anthropologie. Ein erster Überwinder Husserls ist Helmuth Plessner gewesen. Blumenberg zeigt zugleich, wie diese Überwindung in Husserls Phänomenologie selbst schon angelegt gewesen ist, nämlich als Korrektur der phänomenologischen Reduktion, die die Welt aus der Meditation ausschloß. Später aber versuchte Husserl die aus der Meditation ausgeschlossene Welt wieder in sie einzubeziehen, als Lebenswelt und als Intersubjektivität. Es fehlte letztlich nur noch der Mensch. Bis zu seiner Rehabilitierung als phänomenologisches Thema hatte es Husserl aber nicht mehr geschafft.

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