„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 13. Juli 2010

Wesensschau und Gestaltwahrnehmung (Fortsetzung)

Inzwischen habe ich mich mit Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923)“ beschäftigt. Plessner ist ein Schüler von Husserl und so hält auch er am Begriff der „Wesensschau“ fest. Und Plessner läßt auch keinen Zweifel daran, daß es für diese Form der ‚Anschauung‘ einer besonderen ‚Disziplin‘ bedarf, einer gewissen „Mühsal“ der geistigen „Vorbereitung und Disziplinierung“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.191), um der Gehalte einer Wesensschau innezuwerden. Pikanterweise gebraucht Plessner dabei den Begriff der „Disziplin“ in seiner zweifachen Bedeutung, also im Sinne einer Selbstdisziplin, einer geistigen Anstrengung, wie auch im Sinne einer wissenschaftlichen Spezialdisziplin, also z.B. Biologie oder Kulturwissenschaft. Plessner zufolge gibt es nicht nur eine wissenschaftliche „Einheit“ aus „Prinzipien“, sondern auch der geistigen „Haltung“: „Es beginnt alle Wissenschaft mit Disziplinierung der forschenden Haltung in Frage und Antwort ...“. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.157)

Es gibt also eine Disziplin, die nicht nur die Wesensschau ermöglicht, sondern auch eine, die die Wissenschaft ermöglicht. Für mich besteht dabei, wie schon im letzten Post angedeutet, das Problem, daß eine solche Spezialisierung des menschlichen Erkenntnis- und Anschauungsvermögens dazu verleitet, diese zu mystifizieren und dafür wiederum eine besondere Gruppe wie z.B. die Priester oder eben die Wissenschaftler als besonders qualifiziert auszuweisen, was eine Abwertung des gesunden Menschenverstandes, also des gewöhnlichen Menschen beinhaltet. Dann kommt man schnell dahin, den Spezialisten, etwa den Wissenschaftlern, eine höhere Autorität hinsichtlich der Beurteilung der Realität zuzubilligen.

Sicherlich bedarf es einer gewissen Übung im Gebrauch des eigenen Verstandes, so daß z.B. jüngere Menschen, etwa Kinder, älteren Menschen, also den Erwachsenen, eine höhere Autorität zubilligen. Spätestens im Jugendalter ist dieses Vertrauenskapital aber aufgebraucht und Mißtrauen bzw. Rebellion treten an dessen Stelle. Selbst aber angesichts der offensichtlichen Unmündigkeit von Kindern bedarf es schon zur Einübung in den Gebrauch des Verstands wiederum eines Vertrauensvorschusses der Erwachsenen in das Entwicklungspotential von Kindern. Auch Kinder haben Verstand, und dieser fordert, seine eigenen Urteile nur aus der eigenen Einsicht heraus fällen zu dürfen, nicht aufgrund der höheren Autorität der Erwachsenen.

Nun ist das eben bei dem Begriff der „Wesensschau“ nicht so einfach mit dieser eigenen Einsicht bzw. der eigenen Anschauung. Da ist es aber nun interessant, wie Plessner mit dem Begriff der Wesensschau umgeht. Er kennt so etwas wie eine ursprüngliche, primitive Form der Wesensschau, die allen Menschen zur Verfügung steht: „Irgendeine Witterung für die Wesenheit seines Milieus braucht der Mensch, um am einzelnen das Typische, das spezifisch, nicht abstrakt Allgemeine zu erleben.“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.86) – Neben einer vollen geistigen ‚Schau‘, in der uns das ‚Wesen‘ in seiner ganzen Klarheit gegeben ist, gibt es also so etwas wie eine „Witterung“. Hätte nicht jeder Mensch wenigsten diese Witterung, er könnte am Einzelnen nicht das Typische wahrnehmen, – und, so kann man fortsetzen, ohne das Typische nähme er nicht einmal das Einzelne wahr. Womit wir bei der Gestaltwahrnehmung wären. Mit Plessners Worten könnte man also sagen: Gestaltwahrnehmung ist eine Art Witterung für das Wesen von Dingen und Ideen.

Gehen wir aber über die bloße Witterung hinaus zur Klarheit und Fülle der Wesensschau, so verlassen wir die Ebene des Gegenständlichen. Wir haben sozusagen eine Schau ohne Gegenstand: „Fehlt die Gerichtetheit auf den Gehalt, so haben wir die Schau, sei es im Sinnenfeld, sei es ohne Bindung daran. In der Schau offenbart sich der Gehalt, ... es fehlt das ‚Gegenüber‘ von Blickzentrum und Gehalt und wenn auch zur Wesensschau ... eine höchste Anspannung und Gerichtetheit auf die Wesenssphäre Voraussetzung ist, so dient sie doch nur dazu, die störenden Seinsschichten zu durchstoßen, um dann der sich ausbreitenden Ideenklarheit widerstandslos sich zu öffnen.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.88) – Hier könnte ich wieder „Vorsicht!“ rufen und mein Veto einlegen. Zwar habe ich mit der ‚Witterung‘ für das Gestalthafte der Wahrnehmungen eine gute Grundlage für meinen Verstand, auf der er sich sicher bewegen kann, doch nicht, um sie als Sprungbrett in höhere, bodenfernere Dimensionen des Geistes zu mißbrauchen.

Doch auch hier weist Plessner noch einen anderen, jedermann möglichen Zugang zur Wesensschau auf: „Obwohl das gewöhnliche Leben ein Schauen von Ideen kennt, wie wenn ich sage: da ging mir das Wesen der Sache, dieses Menschen auf, obwohl die vita contemplativa des Philosophen zum Schauen der Ideen reif machen soll, zeigt doch nur die Kunst dem Menschen ohne Mühsal der Vorbereitung und Disziplinierung, heiter, wie der Dichter sagt, im Spiel Ideen, wenn er ein empfängliches Gemüt, Sinn dafür hat.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.191) – Es gibt also, ähnlich der Gestaltwahrnehmung, eine weitere, weniger mystische und mehr alltägliche Version der Wesensschau, – die Kunst, und in der Kunst insbesondere die Musik: „Die Musik hat es nun mit keinen Bedeutungen, sondern mit Sinngefügen zu tun, die alles noch offen lassen. ... Ein Spiel von Gesten entfaltet sich und damit ein Spiel der Formen möglicher Bedeutungen aus allen Gebieten des Geistes, da der Geist durchgängig nach dem Gesetz der Ordnungsfunktion in der Einheit des Sinnes und in jenen Formen begründet ist.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.241)

Was es mit den „Ordnungsfunktionen in der Einheit des Sinnes“ auf sich hat, darauf will ich in einem der nächsten Posts eingehen. An dieser Stelle begnüge ich mich damit, zu resümieren, daß es bei der Wesensschau ganz einfach erstmal um nichts anderes geht als um die Möglichkeit, den puren Stoff der Sinneswahrnehmung, die Reize, als Gestalten wahrzunehmen, und dann, gewissermaßen eine ‚Ebene‘ höher, unabhängig vom Stoff geistige ‚Formen‘, also in gewissem Sinne auch wieder ‚Gestalten‘ zu erkennen bzw. zu ‚schauen‘, z.B. am Kunstwerk, einem Bild, dessen Material bzw. Stoff, also die Leinwand und die Farbpigmente etc., keinen eigenständigen Gegenstand ergibt, der Betrachter aber im ‚Geist‘ dennoch Formen, Bedeutungen, Gestalten erschaut. Und am reinsten gelingt diese Schau mit Hilfe der Musik, da in ihr das bloße Sinnenmaterial, der Klang, unmittelbar als sinnvoll bzw. als ‚gestaltet‘ erlebt wird, ohne daß diese Gestalten im Geist erst rekonstruiert werden müßten.

Habe ich auf diese Weise mit Plessners Hilfe den erhabenen Begriff der Wesensschau auf das ursprüngliche, alltägliche Erleben ‚heruntergebrochen‘, so kann ich auch im weiteren mit dem Gedanken an eine durch geistige Selbstdisziplin ermöglichte Wesensschau leben, ohne den gesunden Menschenverstand zu entmündigen.

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