„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 14. Juli 2010

Die Einheit der Sinne

In diesem Post möchte ich mich mit Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes" (1923) (Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne, Frankfurt a.M. 1980, S.9-315) auseinandersetzen. Bei der im Titel des Buches angesprochenen „Ästhesiologie des Geistes" handelt es sich nicht um eine ‚Ästhetik‘ im eigentlichen Sinne, sondern um die Frage, wie eine Verbindung, eine Berührung zwischen den physischen Sinnesorganen und dem ‚Geist‘ möglich wird. Dabei ist Plessners Leitgedanke, daß die Sinnesorgane nicht einfach nur zufällig aus der biologischen Evolution im Zuge einer ständigen Anpassung des physischen Organismusses an die Bedingungen der Umwelt im Dienste des nackten Überlebens hervorgegangen sind, sondern daß sie im Hinblick auf den ‚Geist‘, also das subjektive und individuelle Bewußtsein eine notwendige Einheit bilden. Diese notwendige Einheit der physischen Sinne bildet wiederum eine Einheit des Sinns, ist also vom Sinnganzen des menschlichen Geistes/Bewußtseins her zu denken.

Plessner denkt also die Funktionen der menschlichen Sinnesorgane vom menschlichen Geist her, anstatt sie, wie in der Naturwissenschaft üblich, in ihre atomaren und molekularen Bestandteile zu zerlegen, also zu ‚analysieren‘, um so ihr Funktionieren zu erklären. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.294) Denn auf dem Wege einer solchen Molekularisierung der Sinnesorgane geht das, was deren Sinnhaftigkeit, d.h. ihre Funktionalität für den menschlichen Geist letztlich ausmacht, irgendwo verloren. Erst von den „Früchten", also von den Folgen her, die das Wirken der Sinnesorgane für den menschlichen Geist hat, läßt sich die Wirkungsweise, also die Funktionalität der Sinnesorgane erklären. Nicht von ungefähr erinnert Plessners Vorgehen an Lambert Wiesings „Mich der Wahrnehmung" (2009). Nicht nur die Wahrnehmung, auch der menschliche Geist kann nur in den Notwendigkeiten seiner Wirkungsweise verstanden werden, und die Sinnesorgane sind Formen – Plessner spricht hier wahlweise mal von „Modalitäten", mal von „Qualitäten" – der Entsprechung zwischen Körper und Geist. Sie ‚entsprechen‘ in ihren unterschiedlichen Modalitäten/Qualitäten den Modalitäten des Sinns. Weil der menschliche Geist so ist, wie er ist, sind die menschlichen Sinnesorgane so, wie sie sind und bilden eine notwendige Einheit.

Wenn wir deshalb verstehen wollen, warum die menschlichen Sinnesorgane so und nicht anders funktionieren, wie sie funktionieren, dann muß in einer Ästhesiologie des Geistes „das Untersuchungsfeld" „über das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit" ausgedehnt werden, „jenen Ergebnissen nachspürend, die mit Hilfe nur einer Sinnesmodalität, nur einer Empfindungsqualität zustande kommen." (Vgl. „Einheit der Sinne", S.295) – Ähnlich also wie Rousseau (vgl. meinen Post vom 05.06.10), aber aufgrund einer anderen Ausgangshypothese, versucht Plessner den einzelnen Sinnesorganen in ihrer spezifischen Funktionsweise auf die Spur zu kommen. Während Rousseau aber von der Gleichwertigkeit aller Sinnesorgane ausging und keine Arbeitsteilung in ihrer Funktionsweise zugeben wollte, behauptet Plessner zwar die Einheit der Sinne im Hinblick auf ihre Funktionalität für den menschlichen Geist, geht dabei aber von einer spezifischen Arbeitsteilung unter ihnen aus.

Rousseau versuchte, den Verstand auf einzelne Sinnesorgane zurückzuführen, weil er meinte, daß das ‚Mitfühlen‘ der Sinne im Prozeß der Wahrnehmung ihn am nüchternen Urteilen hindert. Außerdem glaubte er, daß die Sinnesorgane untereinander in einem Konkurrenzverhältnis stehen, so daß unser Verstand dazu verleitet würde, einzelnen Sinnesorganen den Vorzug gegenüber den anderen zu geben. Pikanterweise nahm er hierfür insbesondere den Gesichts- und den Tastsinn als Beispiel. Bei dem an der Wasseroberfläche gebrochenen Stab könnte der Tastsinn den Gesichtssinn ‚widerlegen‘, was zu einer Herabsetzung der Glaubwürdigkeit des Gesichtssinns führen würde. Plessner sieht dagegen im Konkurrenzverhältnis zwischen Gesichtssinn und Tastsinn – die tastenden Finger verdecken vor dem Gesichtssinn die berührten Stellen am Gegenstand – zugleich die Voraussetzung für das distanzierende Sehen: wir versetzen den gesehenen Gegenstand an den Ort, an dem wir ihn berühren. Könnten wir also den Gegenstand nicht berühren, bliebe im Sehakt der Gegenstand gewissermaßen ‚im Kopf‘ und würde nicht nach draußen, hinaus in den Raum außerhalb unseres Organismusses versetzt. Plessner geht sogar soweit, zu behaupten, daß es ohne den Tastsinn überhaupt keine Gesichtswahrnehmung gäbe. (Vgl. „Anthropologie der Sinn“, in: Plessner 1980, S.317-393: 336)

Im Rahmen der Einheit der Sinne beschreibt Plessner drei Arten von Sinnesorganen: das Gesicht, das Gehör und die Zustandssinne. Diese drei Sinnesarten, eben die Modalitäten bzw. Qualitäten, bilden zugleich Modalitäten des materiellen Seins, des Stoffs: „Die Qualitäten sind nicht absolute Seinszustände und sie sind keine subjektiven Zustände. Sie sind vielmehr die Weisen, in denen absolutes, das heißt vom Bewußtsein losgelöst beharrendes Sein, der Stoff, die Materie gegenständlich, für ein Bewußtsein wirklich werden kann." (S.310) Außerdem entsprechen ihnen die zwei Grundformen menschlichen Bewußtseins, die wiederum jede in drei Arten vorkommen. Da wäre zunächst das präsentative, d.h. anschauende Bewußtsein in seinen drei Arten als antreffendes, innewerdendes und füllendes Bewußtsein (vgl. „Einheit der Sinne", S.99f.) und dann das repräsentative, d.h. sinnverstehende Bewußtsein in seinen drei Arten als schematisches, syntagmatisches und thematisches Bewußtsein (vgl. „Einheit der Sinne", S.158-189).

Im wesentlichen unterscheiden sich die beiden Grundformen des Bewußtseins darin, daß dem präsentativen Bewußtsein sein Gegenstand in unmittelbarer Gegenwart gegeben, eben präsent ist, was sich am deutlichsten im antreffenden Bewußtsein zeigt, das auf die ganze Welt der physischen Gegenstände bezogen ist, während das innewerdende Bewußtsein vor allem auf die psychische Innenwelt bezogen ist. Das füllende Bewußtsein ist das Bewußtsein der Wesensschau; aber nicht nur, sondern auch der unmittelbaren, gegenstandslosen Sinnesempfindungen insbesondere in der Musik.

Im Unterschied zum präsentativen Bewußtsein ist dem repräsentativen Bewußtsein sein Gegenstand nur stellvertretend gegeben, z.B. über die Sprache und die Schrift. Beim repräsentativen Bewußtsein haben wir es also mit dem eigentlichen Bereich des Geistes zu tun, während wir es beim anschauenden Bewußtsein mit dem Leib zu tun haben, – Plessner spricht vom „Körperleib" (vgl. „Einheit der Sinne", S.298), um die Verbindung zwischen der physischen und der psychischen Dimension des Menschseins zum Ausdruck zu bringen. ‚Schematisch‘ ist das repräsentative Bewußtsein, weil es in ihm um die mathematisierbare Dimension des „Raumzeitkontinuums" geht. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.159f.) ‚Syntagmatisch‘ ist das repräsentative Bewußtsein, weil es in ihm um die Möglichkeit der artikulierenden Gliederung der psychischen Innenwelt geht. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.163) Warum Plessner nun die dritte Art des repräsentativen Bewußtseins als ‚thematisch‘ kennzeichnet, ist mir nicht so ohne weiteres ersichtlich. Man hätte es auch mit einem anderen Prädikat versehen können. Jedenfalls geht es im thematischen Bewußtsein nicht um Bedeutung, wie im syntagmatischen Bewußtsein, sondern um Deutung, und zwar um die Deutung der im füllenden Bewußtsein stattfindenden Schau der Ideen. So deuten wir z.B. die mit der Musik einhergehenden Hörerlebnisse, ohne daß mit diesen Hörerlebnissen ein sichtbarer Gegenstand oder ein gegliederter Gedankengang verbunden ist. Musik erscheint uns unmittelbar als sinnhaft, also als dem Sinnbedürfnis unseres Bewußtseins adäquat, ohne daß wir dem Hörerlebnis einen verallgemeinerbaren oder objektivierbaren Sinn zugrundelegen könnten. Wir können ihm also keine Bedeutung geben, aber wir können ihn deuten. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.289)

An dieser kurzen Darstellung wird schon deutlich, worin bei Plessner die Einheit der Sinne besteht: in der durchgängigen Korrespondenz – Plessner spricht von „Akkordanz" – zwischen den Modalitäten der Sinnesorgane und den Arten des präsentativen und repräsentativen Bewußtseins. Das macht zugleich deutlich, warum die Einheit der Sinne eine notwendige und keine zufällige ist. Es handelt sich eben nicht nur um eine Anpassung an eine äußere Umwelt, sondern um die Grundvoraussetzung einer möglichen Adäquation zwischen Geist und Körper. Im nächsten Post werde ich darauf eingehen, inwiefern nun die verschiedenen Modalitäten der Sinnesorgane ihren spezifischen Beitrag zu dieser Adäquation leisten.

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