„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 15. Juli 2010

Die Einheit der Sinne (Fortsetzung)

Die drei Arten von Sinnesorganen, die Modalitäten, unterscheiden sich Plessner zufolge u.a. nach ihrer „gegenstandsbildenden Qualität“. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.289f.) So sind der Gesichtssinn und der Tastsinn primär gegenstandsbildend, während das Gehör und die Zustandssinne (Geschmack und Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust (vgl. „Einheit der Sinne“, S.267f.)) nur sekundär gegenstandsbildend sind. Aber schon an dieser Stelle zeigt sich, daß diese Unterscheidung nicht eindeutig ist. Denn der primär gegenstandsbildende Tastsinn ist zugleich auch ein Zustandssinn, und das Gehör als Zustandssinn hat mit dem Gesicht gemeinsam, daß es einen unmittelbaren Bezug zum Sinnverstehen, also zum ‚Geist‘ hat, der den Zustandssinnen fehlt. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.289f.) Die Zustandssinne betreffen allesamt geistferne Befindlichkeiten, also Zustände des Körpers und des Leibes: „Denn wo kein Sinn erscheint, ist die Ästhesiologie des Geistes am Ende.“ („Einheit der Sinne“, S.267f.) Wenn es deshalb um die Beziehung zum Geist geht, befinden sich also Gesicht und Gehör wiederum auf der einen Seite den Zustandssinnen auf der anderen Seite, die keine Beziehung zum Geist aufweisen, sondern eine „psychische Zwischenschicht“ („Einheit der Sinne“, S.214) zwischen Körper und Geist (den Leib) bilden, gegenübergestellt.

Was genau leisten nun Gesicht, Gehör und die Zustandssinne jeweils für sich? Das Gesicht hat Plessner zufolge im Unterschied zur dynamischen Qualität des Schalls statischen Charakter. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.231) Zwischen den optischen Empfindungen findet keine Verschmelzung statt. Eine entsprechende Verknüpfung der optischen Wahrnehmungen zu einem umfassenden Gesamtbild, z.B. beim Betrachten einer Landschaft oder eines Bildes „bleibt bloß der Synopsis des Betrachters überlassen.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.234)

Das besondere Kennzeichen des Gesichts ist der Blick- bzw. Sehstrahl: „Sehen ist nun einmal Gerichtetheit auf einen Stoffgehalt in der Weise des Strahls; der Sehstahl kann wandern, und wenn er mit der vollen Aufmerksamkeit gesättigt ist, steht das in den Blick Gefaßte in unmittelbarer Geradheit vor dem Blicksender.“ („Einheit der Sinne“, S.260) Die „unmittelbare Geradheit“ bildet die Grundlage für die Wahrnehmung von Linien (vgl. „Einheit der Sinne“, S.261f.), die wiederum die Grundlage für die Wahrnehmung von Figuren (Gestalten) und damit der euklidischen Geometrie bilden (vgl. „Einheit der Sinne“, S.159f., 196 u.ö.), die bei Plessner aufgrund ihrer anthropologischen Qualität den nicht-euklidischen Geometrien gegenüber einen klaren Vorzug genießt (vgl. „Einheit der Sinne“, S.162, 196). Da die Geometrie eine wesentliche Grundlage der Schematisierbarkeit der physischen Gegenstände bildet und die Schematisierbarkeit der Gegenstände wiederum der Technik, d.h. der Beherrschbarkeit der physischen Welt zugrundeliegt (vgl. „Einheit der Sinne“, S.95 135f., 162 u.ö.), da darüberhinaus der Sehstrahl selbst durch seine Gerichtetheit „das Schema jeder Handlung“ liefert (vgl. „Einheit der Sinne“, S.262), gibt es eine spezifische „Konformität der Sehfunktion und des Handelns“ (ebenda).

Das besondere Kennzeichen des Gehörs ist die Voluminosität, also das An- und Abschwellen und das Nachhallen des Klangs, die seine Dynamik im Unterschied zum Lichtstrahl ausmachen. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.229, 231) Diese Voluminosität füllt im Hören den „phänomenalen Leibesraum“ aus, so daß jeder Tonlage eine entsprechende ‚Lage‘ im phänomenalen Leibesraum entspricht, die wir aufsuchen müßten, wollten wir „den gleichen Ton stimmlich erzeugen“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.234). Anders als beim punktuellen Sehstrahl des Gesichts können mehrere Töne gleichzeitig wahrgenommen werden und „Akkorde“ bilden. (Vgl. ebenda) So wie nun der Ton den phänomenalen Leibesraum ausfüllt, erzeugt er eine „Haltung“, die ein unmittelbares Sinnverstehen beinhaltet. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.238) So wie das Gesicht zur Handlung, so hat also das Gehör zur Haltung eine „Akkordanz“. (Vgl. ebenda) Hören wir Musik, so bewegen wir uns zu dieser Musik und fühlen uns zum Handeln angeregt, das ganz einfach im Tanzen bestehen kann oder bei der Marschmusik im Marschieren oder im Supermarkt bei entsprechender Musikberieselung im Einkaufen.

Einen besonderen Beitrag leistet das Gehör zur Menschwerdung des Menschen. Wie wir schon bei Tomasello gesehen hatten (vgl. meinen Post vom 26.04.2010), ist es im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, ungewöhnlich, daß beim Menschen die Sprachbildung den Weg ausgerechnet über die Stimme genommen hat. Diese Verbindung von Laut und Zeichen hat Plessner zufolge eine ganz wichtige Funktion. Das Zeichen ist eine rein geistige Funktion und hat keine natürliche Verbindung zum Gegenstand, den es bezeichnet. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.244f.) Jedes beliebige Zeichen kann jeden beliebigen Gegenstand bezeichnen. Der Klang aber hat, wie wir gesehen haben, eine unmittelbare Beziehung zur Haltung. Beides, Zeichen und Klang, wird nun in der mündlichen Sprache miteinander zu etwas Neuem verbunden, so daß es „etwas grundsätzlich anderes (ist), ob ich einer Erregung, Stimmung, Zuständlichkeit des Geistes und der Seele in der Haltung des Leibes spezifisch gestalteten Ausdruck gebe und sie gewissermaßen sich selbst ausdehnen und entladen lasse oder ob ich ihr Ausdruck gebe, indem ich sie meine und in Worte fasse.“ („Einheit der Sinne“, S.214f.)

Worin liegt dieser Unterschied des Meinens in Worten zum Ausdruck in der leiblichen Haltung? Sie besteht darin, daß „die syntagmatische Gliederung in der bald vorstellenden, bald zielsetzenden, bald genießenden Anteilnahme an den Gegenständen, die Disposition im Erleben und nicht erst auf Grund des Erlebens, diese eigentlich auf die Rede schon zugeschnittene Art, die Welt aufzunehmen, Erregung, Spannung und Entspannungstendenz hervor(bringt).“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.246) – Die mit Hilfe der gegenstandfremden Zeichen ermöglichte syntagmatische Gliederung unserer Gefühlswelt in der Sprache hat also eine homöodynamische Funktion, die zur Entspannung der körperlich-leiblichen Erregungszustände beiträgt. Jeder, der sich mal so richtig ‚ausgesprochen‘ hat, kennt das. Diese zwei Seiten bzw. Aspekte der menschlichen Sprache, Klang und Zeichen, haben also eine wichtige Funktion bei der Verarbeitung von Erlebnissen: „Der Geist arbeitet von zwei Seiten sprachbildend, vom Sinn her syntagmatisch, von der Anschauung her anteilnehmend und muß von diesen beiden Seiten her kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.246) – Die leibliche Haltung als Ausdruck unserer psychischen Zustände geht also mit Hilfe der mündlichen Sprache eine erlösende, befreiende Verbindung mit unserem Geist ein.

Das besondere Kennzeichen der Zustandssinnesorgane (Geschmack und Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust (s.o.)) ist ihre „Sinnfreiheit“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.270). Damit ist gemeint, „daß in ihrem Material keine eigene Sinngebung stattfindet, während wir eben bei Gesicht und Gehör solche spezifischen Vergeistigungsmöglichkeiten antreffen.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.269) – Aber genau diese „Sinnfreiheit“ ist es, der Plessner wiederum einen besonderen „Sinn“ zuspricht (vgl. „Einheit der Sinne“, S.270), nämlich den eines „psychischen Zwischenreichs“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.214): „Gestaltete Einheiten ohne jeden Hinweis auf Sinnesdaten, Tendenzen und Verbindungen ohne Empfindungsstofflichkeit beherrschen das bewußte Seelenleben. Getragen und getrieben wird es von der unbewußten seelischen Realität.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.271)

Wir haben es bei dem Empfindungsstoff dieses Zwischenreichs, den uns die Zustandssinne liefern, gewissermaßen mit Empfindungen im Schwebezustand zu tun, die noch nicht auf Gegenstände bezogen sind, sondern erst auf sie ‚geprägt‘ werden müssen. Ob uns Gegenstände also als angenehm oder als unangenehm erscheinen, die ganze Palette emotionaler Begleitqualitäten, die mit der visuellen und tastenden Wahrnehmung einhergehen, ist nicht mit den Zustandssinnen schon ‚gegeben‘. Hier muß erst eine biographische und kulturelle Kopplung stattfinden, die dazu führt, daß z.B. bestimmte ‚Fetische‘ Wollust auslösen, ob das nun im eher üblichen Sinne sekundäre Geschlechtsmerkmale sind oder eher Füße oder Latex.

Das Spannende an diesem psychischen Zwischenreich ist, daß es so plastisch, also formbar und auch deformierbar ist, so daß man sich hier vieles vorstellen kann, was ‚falsch‘ laufen kann. Der eigentliche „Sinn der Sinnfreiheit“ liegt aber bei Plessner weniger in dem Entwicklungspotential des Empfindungsstoffes unserer Zustandssinne als vielmehr darin, als „vermittelnde Zwischenschicht den Körper ins Bewußtsein“ zu heben (vgl. „Einheit der Sinne“, S.273) und mit dem „körperliche(n) Sein des eigenen Leibes“ auch das „der fremden Dinge.“ „Ihre Weise (nämlich die Weise der Zustandssinne – DZ) ist die Vergegenwärtigung des Seins im Erleben.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.285) So werden die Zustandssinne als „vermittelnde Schicht des Erlebens“ zu einem Spiegel, „in welche(m) die Gestalten aller Welten sich spiegeln“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.245).

So wie also die Wahrnehmung der gegenständlichen Welt stets von Empfindungsqualitäten begleitet ist und auf diesem Weg dem sinnverstehenden Geist zu Bewußtsein kommt, formt nun wiederum der Geist diese Zwischenschicht, „die ... selbst unmittelbar der syntagmatischen Artikulation gehorcht wie Wachs den Händen des Bildhauers“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.245), durch syntagmatische Gliederung. Wir haben es also ähnlich wie bei der Sprachbildung mit zwei aufeinander bezogenen Seiten zu tun, einer körperlich-leiblichen, in der Physisches und Psychisches aufeinander bezogen sind, und einer leiblich-geistigen, in der Psychisches und Geistiges aufeinander bezogen sind.

Zum Schluß muß ich noch kurz auf den Begriff der „Ordnungsfunktion“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.206ff.) eingehen, wie er im vorangegangenen Post aufgetaucht ist. Wenn ich alles richtig verstanden habe, so geht es mit diesem Begriff um verschiedene, einander entsprechende Gliederungen im Bereich des repräsentativen Bewußtseins. Das schematische Bewußtsein gliedert nach Hypothesis, Antithesis und Systema, das syntagmatische Bewußtsein gliedert nach Thesis, Parathesis und Synthesis, und das thematische Bewußtsein gliedert nach Arsis, Thesis und Synesis. Diese Gliederungsbegriffe bezeichnet Plessner als Ordnungsfunktionen und belegt mit ihnen die Einheit des Geistes auf allen Ebenen des Sinnverstehens. An dieser Stelle muß ich allerdings passen, denn wo Begrifflichkeiten so auf einander abgestimmt sind wie bei Plessners Ordnungsfunktionen (der Begriff der Thesis taucht z.B. gleich zweimal auf), erhalten sie schnell etwas Mechanisches und gleichsam Klapperndes. So fällt es mir z.B. schwer, zwischen den schematischen und den syntagmatischen Ordnungsfunktionen zu unterscheiden. Da ist der Unterschied zwischen den schematischen und syntagmatischen Ordnungsfunktionen auf der einen Seite und den thematischen Ordnungsfunktionen auf der anderen Seite schon offensichtlicher, denn mit den Begriffen der Arsis ist „Hebung“ gemeint, mit Thesis ist „Senkung“ gemeint, und mit Synesis ist „Zusammenordnung“ gemeint. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.207) Und darin scheint dann wieder die Homöodynamik auf, in der unsere aufgeregten Zuständlichkeiten über die syntagmatische Artikulation in eine Besinnung ermöglichende Entspannung überführt werden.

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