„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 21. Juni 2010

Wesensschau und Gestaltwahrnehmung

In meinem letzten Post hatte ich mich von einer Form der Intuition distanziert, die für gewöhnlich als ‚intellektuelle‘ Intuition bezeichnet wird. Diese Intuitionsform fällt in die Ontologie und – für meinen Geschmack – in die Theologie, – denn sie erfordert eine gewisse geistige bzw. geistliche ‚Disziplin‘, die man auch als ‚Meditation‘ bezeichnen könnte. Die Wesensschau ist also – anders als die Sinneswahrnehmung – nicht so ohne weiteres zugänglich, und es bedarf einer gewissen ‚Begabung‘ dazu. Derjenige, dem diese Begabung fehlt, ist darauf angewiesen, den Berichten anderer, die sich mit mehr Erfolg der Wesensschau zuwenden, zu ‚glauben‘. Wir bewegen uns also insgesamt in einem Gebiet, das wie in der Theologie große Zumutungen an den gewöhnlichen Verstand stellt. Und immer, wenn das der Fall ist, neige ich dazu, die Bereitschaft, sich nur dem eigenen Verstand zu unterwerfen und nicht dem Verstand anderer, höher zu bewerten als den Verstand der anderen.

Trotzdem läßt es mir keine Ruhe, dennoch verstehen zu wollen, was jene Anderen eigentlich meinen, wenn sie von der ‚Wesensschau‘ reden. Eine meiner Vermutungen hatte ich schon im letzten Post angesprochen: die mathematischen und geometrischen Wahrheiten, die ich in ihrer anfänglichen Reihung (Arithmetik) und in ihren einfachen Formen (euklidische Geometrie) problemlos auf die Notwendigkeiten der Gestaltwahrnehmung zurückführen kann. Was erfahrene und geniale Mathematiker aus diesen Anfängen zu machen verstehen (von nicht-euklidischen Geometrievarianten bis hin zum gleichermaßen berühmten wie berüchtigten e = m ⋅ c²), geht zwar weit über die Grenzen meines Verstandes hinaus, erscheint mir aber auf der erwähnten Grundlage (Gestaltwahrnehmung) als tolerabel.

Nun finde ich bei Helmuth Plessner (Anthropologie der Sinne, Gesammelte Schriften III, 1980) insgesamt drei Anschauungsformen: antreffende, innewerdende und erfüllende Anschauung (vgl.S.87ff., 99f., 102). Die antreffende Anschauung ist die einfache Wahrnehmung, zu der alles Physische und Leibliche gehört, also neben rein physikalischen Gegenständen auch ‚Emotionen‘ im Sinne Damasios. Hierbei handelt es sich um den sichtbaren Aspekt unseres Gefühlslebens, den wir an unserer Mimik und unserem Verhalten für jedermann physisch ‚anschaulich‘ vor Augen haben. (Vgl.S.79f.) Bei der innewerdenden Anschauung haben wir es mit dem zu tun, was Damasio die ‚Gefühle‘ nennt. In ihnen werden wir uns unserer Emotionen bewußt: sie werden uns innerlich zum Phänomen. (Vgl.S.90) Diese Gefühle können wir als wesentlich innere Phänomene nicht nach außen darstellen, anders als die schon erwähnten Emotionen, die in unserer Mimik und unserem Verhalten für jeden unmittelbar ‚anschaulich‘ sind. Wir können sie aber versprachlichen und so ‚verständlich‘ machen. Dann bewegen wir uns aber nicht mehr auf der Ebene der Anschauung, sondern auf der Ebene des Verstehens.

Und schließlich haben wir noch die erfüllende Anschauung, die bei Plessner – wenn ich das richtig verstehe (Plessner hat eine sehr eigentümliche, gewundene Ausdrucksweise, die das Verständnis einer sowieso schon schwierigen ‚Materie‘ zusätzlich erschwert) – für die eigentliche Wesensschau steht. Bei der erfüllenden Anschauung geht es nun an der Grenzlinie zwischen ‚Stoff‘ und ‚Form‘ um die „Möglichkeit der Verwebung der beiden Anschauungskomponenten“ (vgl.S.102). Es ist das „Wesen im Ganzen“, das „die Erscheinungen im einzelnen“ erst wahrnehmbar macht, indem es eben der stofflichen Materie eine „einheitliche Bewegungsgestalt“ vorgibt (vgl.S.121). Als Beispiel nennt Plessner die „Rhythmik“, also rhythmisch aufeinander folgende Sinnesreize, die im Falle einer rhythmischen Abfolge eben nicht als je einzelne wahrgenommen werden, sondern als rhythmisches Ganzes, also als Gestalt.

Das ist es, was mir als ‚Wesensschau‘ einleuchtet: Gestaltwahrnehmung! Die Frage, wie aus ‚Stoff‘ und ‚Form‘ eine ‚Gestalt‘ werden kann, ist eine Problematik, die den Grenzen des Verstandes entspricht, möglicherweise auch über diese Grenzen hinausgeht, aber – wie jede echte Anschauung – ihn nicht entmündigt, indem sie ihn dazu zwingt, sich den höheren ‚Weihen‘ begabterer Autoritäten zu unterwerfen. Geht es also in der Wesensschau um Gestaltwahrnehmung, haben wir es weder mit einer Ontologie noch mit einer Theologie zu tun, sondern schlicht und einfach mit einem Problem: wie nehmen wir wahr, wie finden wir uns in einer Welt, wie funktioniert unser Verstand?

Genau hier ist der kritische Punkt (und wie wir damit umgehen), an dem sich unsere Menschlichkeit zeigt.

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