„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 24. Mai 2011

Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a.M. 2002 (1999)

(Vgl. auch meine Posts vom 25.04.26.04. und 27.04.2010 und vom 06.06., 07.06. und 08.06.2012) 

1.    Forschungsmethode
2.    Individuelles und kulturelles Lernen

Frans de Waal und Michael Tomasello verfolgen bei ihren Studien und Versuchen unterschiedliche Ziele. Damit meine ich nicht, daß sich de Waal mit der Evolution der Empathie befaßt und Tomasello mit der Evolution der Kognition. Vielmehr meine ich de Waals Anliegen, die Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier hervorzuheben, und Tomasellos Interesse an den Unterschieden. Deshalb ist es, nachdem ich in den letzten Posts de Waals Buch „Das Prinzip Empathie“ (2011) besprochen habe, sicher sinnvoll, an dieser Stelle noch einmal auf Tomasellos „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002) einzugehen.

Zunächst aber möchte ich auf Tomasellos Forschungsmethode zu sprechen kommen, auf die Tomasello insbesondere im Vorwort der deutschen Ausgabe seines Buches eingeht. (Vgl. Tomasello 2002, S.7-10) Tomasello beginnt mit der eher für den deutschen Sprachraum üblichen Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Diese Unterscheidung ist nach Tomasellos Darstellung hinsichtlich der Untersuchung anthropologischer Phänomene nur eine methodologische. Sie läßt sich vom Gegenstand her, also substantiell, nicht begründen. ‚Methodologisch‘ heißt, daß wir zwei Möglichkeiten haben, unseren Gegenstand, also das menschliche Bewußtsein (als Kognition), zu untersuchen: das Labor, das es uns mithilfe einer Standardisierung des Kontextes ermöglicht, mit standardisierten Methoden quantifizierbare Phänomene zu messen und zu beobachten; oder wir suchen unseren Gegenstand in seinem natürlichen Umfeld auf, wo wir ihn mit ebenfalls standardisierten, aber nun den Kontext berücksichtigenden hermeneutischen oder interpretativen Methoden beobachten und beurteilen können. (Vgl. Tomasello 2002, S.7f.)

Die zweite Möglichkeit ist vor allem für kontextabhänge Phänomene geeignet, eine Kategorie, unter die eigentlich alle Bewußtseinsphänomene fallen. – Sie wird von de Waal eindeutig bevorzugt. (Vgl. meinen Post vom 15.05.2011) – Die Labormethode bezeichnet Tomasello als naturwissenschaftlich und die Kontextmethode als geisteswissenschaftlich.

Was nun seinen Gegenstand betrifft, die menschliche Kognition und ihre Evolution, so bewegt sich Tomasello hier auf beiden Ebenen, so daß sich eine Orientierung an nur einer der beiden genannten Methoden verbietet. Tomasello nennt als Beispiel die Sprache. Um die menschliche Sprachentwicklung zu beschreiben,  muß ich sowohl ihre biologische Entwicklung (Genetik) und ihre geographische Verbreitung (Kontext) berücksichtigen, wie auch ontogenetische und biologische Aspekte des Sprechenlernens, die von der Genetik über die Linguistik und Psycholinguistik bis zur Neurophysiologie reichen. Wir haben es also mit einem interdisziplinären Gegenstand zu tun, bei dem die Übergänge zwischen geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Ansätzen fließend sind.

So wie bei der Sprache haben wir es auch bei der Kognition mit einem interdisziplinären Gegenstand zu tun, und Tomasello plädiert entschieden für einen nicht-reduktionistischen Umgang mit diesem Thema. (Vgl. Tomasello 2002, S.9)

Neben der methodologischen Dichotomie spricht Tomasello im Anschluß an Ferdinand Tönnies noch von einer substantiellen Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. (Vgl. Tomasello 2002, S.9f.) Ich selbst orientiere mich dabei lieber an Helmuth Plessner als an Tönnies, der für meinen Geschmack zu metaphysisch an diese Differenz herangeht. Die Gesellschaft umfaßt Tomasello zufolge das gesamte öffentliche Leben bzw. die Kultur: Kunst, Literatur, Musik etc. Sie tritt erst relativ spät in der menschlichen Evolution auf und ist nach Tomasello „kein notwendiger Bestandteil des menschlichen Soziallebens“ (Tomasello 2002, S.9f.).

Die Gemeinschaft umfaßt nun Tomasello zufolge das engere Zusammenleben und das gegenseitige Verstehen. In solchen Zusammenhängen haben die Menschen den größten Teil ihrer Evolution gelebt, und sie betreffen sowohl auf phylogenetischer wie auf ontogenetischer Ebene eine frühe Phase der menschlichen Entwicklung. Die Gemeinschaft bildet die Grundvoraussetzung der menschlichen Kognition. (Vgl. Tomasello 2002, S.10)

Hier haben wir einen weiteren bedeutsamen Unterschied zu de Waal und darüberhinaus auch zu Plessner. Während Tomasello sein Thema, die Evolution der menschlichen Kognition, in den kulturellen Kontext von Gesellschaft und Gemeinschaft stellt, befaßt sich de Waal nur mit der Biologie der Evolution der menschlichen Empathiefähigkeit. Das läßt sich vielleicht damit rechtfertigen, daß die Empathie irgendwie biologischer ist als die Kognition. Aber auf das Ganze des menschlichen Bewußtseins bezogen, läßt sich de Waals Zurückhaltung gegenüber kulturellen Phänomenen eigentlich nicht rechtfertigen.

Übrigens fällt auf, daß nicht nur de Waal, sondern auch Tomasello die Gemeinschaftsebene in das Zentrum seiner Untersuchungen stellt, was vielleicht daran liegt, daß die sozialen Zusammenhänge im Inter-Spezies-Vergleich immer Gruppen betreffen, also Gemeinschaften, und die darüber hinausgehende gesellschaftliche Ebene hier keine Entsprechung findet, – es sei denn wir beziehen uns auf Ameisenstaaten und Bienenvölker. Aber auch hier kann nur im metaphorischen Sinne und nicht im analogischen Sinne von ‚Ähnlichkeiten‘ gesprochen werden.

Im Unterschied zu Helmuth Plessner erkennt Tomasello nicht die wichtige Funktion, die die Gesellschaft für die Ontogenese der menschlichen Individualität als Schutzraum für die intimsten seelischen Bedürfnisse hat. Er beschränkt sich bei seinen Vergleichen zwischen Schimpansen und Menschen zu sehr auf die Ontogenese des Kleinkindes, so daß auch er letztlich doch mehr dem biologischen Raum der menschlichen Entwicklung verhaftet bleibt, als es seinem Thema – immerhin die menschliche Kognition, also im weitesten Sinn der menschliche Verstand – guttut.

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