„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Mai 2011

Viktor Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010 (2009)

  1. Gesellschaftliches Gedächtnis und individuelles Wachstum
  2. Entropie und das Prinzip der Negation
  3. Vergessen und Urteilsvermögen
  4. Analoge Gedächtnismedien und digitales Gedächtnis (fragmentierte Positionalität) 
  5. Erinnern als Narrativität (Reembedding)
  6. Problembewußtsein wecken mit Verfallsdaten
Als größte Gefahr eines umfassenden digitalen Erinnerns hebt Mayer-Schönberger hervor, daß es die Zeit kollabieren läßt. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.152) Was ist damit gemeint? Zunächst einmal etwas Offensichtliches: je genauer ein Gedächtnis ist, je präziser es funktioniert, um so starrer ist es, etwa so, wie man sich ein photographisches Gedächtnis vorstellt. Die erinnerten Geschehnisse gerinnen zu statischen Bildern. Und weil sie sich eben nicht mehr verändern, fallen sie aus der Zeit, in der alles fließt und sich verändert, heraus. Das wäre als solches nicht weiter schlimm, solange es sich nur um ein externes Gedächtnis handelt, wie z.B. ein Photoalbum. Die Bilder, die wir dort aufbewahren, befinden sich ja nicht mehr in unserem ‚Kopf‘, und wenn wir sie uns nach vielen Jahren wieder betrachten, leisten wir dabei eine leicht sentimental eingefärbte Erinnerungsarbeit, indem wir uns zu den Bildern die damaligen Erlebnisse hinzudenken, sie also so weit wie möglich mit einem Hintergrund ausstatten, so daß sie wieder ‚lebendig‘ werden, also ihre starre Unbeweglichkeit wieder verlieren.

Außerdem tragen die Photos nach einiger Zeit Spuren ihrer Vergänglichkeit an sich, sind leicht vergilbt, und falls uns ein Familienmitglied oder ein alter Freund beim Betrachten der Photos Gesellschaft leistet, werden wir feststellen, daß sich unsere Erinnerungen nicht völlig gleichen, – daß sie sich in einigen, von uns als wesentlich empfundenen Details unterscheiden und sich sogar widersprechen. Hier befinden wir uns noch in einer analogen Welt, in einer Welt der analogen Gedächtnismedien, die je nach Typ ebenfalls altern, ob es sich nun um Bücher, Gemälde, Tonträger oder eben Photographien handelt. Hier gibt es noch eine klare Differenz zwischen Original und Kopie. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.46f.) Je mehr Bücher durch Abschreiben kopiert werden, um so mehr Fehler schleichen sich in die Kopien. Je öfter Tonbänder überspielt werden, um so schlechter die Qualität (Vgl.M.-Sch. 2010, S.66ff.): „In der analogen Welt scheint jede weitere Kopie, die doch zum Zwecke des Erinnerns angefertigt wird, mit einer Prise Vergessen gewürzt zu sein, und diese zufälligen Fehler vernichten nach und nach den Inhalt.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, S.68)

Hinzu kommt, daß analoge Gedächtnismedien auf je spezifische Speicher- und Abspielmedien angewiesen sind. Für den Klang bedarf es der Schallplatten und der Tonbänder, für die Schrift des Papiers (bzw. der Tonscherben, des Papyrus oder der Knotenschnüre), für das Bild bedarf es der Höhlenwand, der Leinwand oder des Zelluloids.

Mit dem digitalen Gedächtnis hat es mit dem Altern, dem allmählichen Qualitätsverlust von Informationen ein Ende. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Original und Kopie. Und auf spezifische Speichermedien und Abspielgeräte ist das digitale Gedächtnis auch nicht mehr angewiesen. Es ist im wahrsten Sinne ‚körperlos‘ geworden und in diesem Sinne – aber nicht nur in diesem Sinne – gottgleich. Der PC ist zu einem „universellen Mehrzweckgerät“ geworden (vgl.M.-Sch. 2010, S.74) und für den Rest, den universellen Zugang zum digitalen Gedächtnis, sorgt eine globale Infrastruktur: das Internet. Der technische ‚Körper‘ ist hinter seiner Funktion vollständig zum Verschwinden gebracht worden.

Ich hatte bei meiner Auseinandersetzung mit Assmanns kulturellem Gedächtnis auf die Analogie von ‚Textkörper‘ und ‚Körperleib‘ hingewiesen. (Vgl. meinen Post vom 29.01.2011) Der Text befindet sich in einer ähnlich exzentrischen Position zum Papier wie der Leib zum Körper. Wenn ich nun versuche, Plessners Begrifflichkeit auf das Internet zu beziehen, so kann so eine einfache Übertragung nur mißlingen. Zum Internet bzw. zum digitalen Gedächtnis (man denke nur an das‚cloud‘-computing) gibt es keinen ‚Körper‘ mehr. Hier kommen wir nur mit einer begrifflichen Neuprägung weiter. Ich halte es für angemessen, in bezug auf das digitale Gedächtnis von einer fragmentierten Positionalität zu sprechen. Zur exzentrischen Positionalität gehört immer noch ein Zentrum, das sich zu etwas Anderem, zu einer Peripherie, exzentrisch positionieren kann. Im digitalen Gedächtnis gibt es kein Zentrum mehr und keine Peripherie, weshalb jeder Zugriff darauf (bzw. jede Positionierung zu ihm) nur noch ein fragmentarischer sein kann.

Kommen wir nochmal auf die Gottgleichheit zurück. Ich habe als Kind noch gelernt, daß Gott alles sieht, daß vor Seinen Augen nichts verborgen bleibt, und daß mir am Tage des Jüngsten Gerichts die Rechnung präsentiert werden würde. Mayer-Schönberger bezeichnet diesen göttlichen, alles umfassenden Blickwinkel (der gar kein ‚Winkel‘ mehr ist) als „Panopticon“ und bezieht sich dabei auf Jeremy Bentham: „Vor mehr als zweihundert Jahren entwickelte Bentham das Konzept eines Gefängnisses, in dem die Gefängniswärter die Gefangenen stets beobachten können, ohne dass diese wissen, ob und wann sie beobachtet werden.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, S.21) – Und Mayer-Schönberger fügt hinzu: „Ein umfassendes digitales Gedächtnis ist ein noch perfideres digitales Panopticon.“ (Ebd.)

Warum? Weil es aktuelle Vorgänge nicht nur beobachtet, sondern auch speichert und für alle Zukunft aufbewahrt, – eben bis zum Jüngsten Gericht. Ein Jüngstes Gericht, das wie in der christlichen Apokalypse jederzeit unvermutet über uns hereinbrechen kann, wie Mayer-Schönberger an zwei Beispielen zeigt: das Beispiel einer US-amerikanischen Bewerberin für das Lehreramt, der ein Photo von einer Karnevalsveranstaltung zum Verhängnis wurde (Berufsverbot (vgl. M.-Sch. 2010, S.10f.)) und das Beispiel eines kanadischen Psychotherapeuten, den 2006 das Schicksal in Form eines von ihm selbst längst vergessenen Vortrags zum Drogenkonsum einholte (lebenslängliches Einreiseverbot in die USA (vgl.M.-Sch. 2010, S.12f.)).

Das digitale Gedächtnis steht also gottgleich außerhalb der Zeit und erinnert sich an alles, was einmal in ihm gespeichert wurde und in ihm geschehen ist, in Form von Kommunikation, als Recherche oder was auch immer sonst. Es macht die Veränderungen, die wir Menschen in unserem Leben durchmachen, nicht mit, und es widerspricht eiskalt und nüchtern unseren persönlichsten und authentischsten Erinnerungen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm – entgegen unseren eigenen derzeitigen Überzeugungen – recht zu geben. Es bleibt uns nichts anders übrig, als unserem eigenen Gedächtnis zu mißtrauen. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.142f.) Woran erinnert uns das? Richtig! Kant hatte einmal über den Verstand etwas hierzu Passendes gesagt: wir sollten lieber unserem eigenen Verstand trauen, als uns der Autorität eines fremden Verstandes zu beugen.

Auch Mayer-Schönberger fordert, daß wir wieder lernen müssen, unserem eigenen Gedächtnis zu trauen, und dazu gehört, dem digitalen Gedächtnis zu mißtrauen: „Mein Vorschlag zur Wiederbelebung des Vergessens, beispielsweise durch Verfallsdaten, richtet sich primär gegen die Zeitdimension des digitalen Erinnerns.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, S.213) – Im nächsten Post möchte ich näher darauf eingehen, um welche Art von ‚Zeit‘ – präziser: von Zeiterleben – es sich eigentlich handelt, für das Mayer-Schönberger in seinem Buch gegen das digitale Gedächtnis eintritt.

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