„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Mai 2011

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011 (2009)

1.    Forschungsmethoden
2.    Die Natur des Menschen
    a)    Merkmale, Ursprungsmythen und Prinzipien
    b)    Egoismus und Selbst
    c)    Die russische Puppe (Schichtenmodell)
3.    Haltung und Empathie
    a)    Verkörperte Kognition
    b)    Der zweiteilige Prozeß
    c)    Der Abschaltknopf
4.    Unbeteiligte Perspektivenübernahme
5.    Ko-Emergenz-Hypothese

Das zweite Bild, das de Waal verwendet, um die menschliche Natur zu beschreiben, ist neben dem vom krummen Holz die russische Puppe. (Vgl.de Waal 2011, S.269) Man kennt sie auch als „Babuschka“. Dabei handelt es sich um einen Satz verschieden großer, ineinander steckender Holzfiguren. De Waal will an diesem Beispiel verdeutlichen, daß die menschliche Empathiefähigkeit sich ebenfalls aus unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Schichten zusammensetzt, die im Laufe der Säugetierevolution entstanden sind.

Im Unterschied zu einer neurophysiologischen Betrachtungsweise der menschlichen Evolution, in der vor allem die verschiedenen evolutionären Schichten des Gehirns in den Fokus genommen werden, interessiert sich de Waal vor allem für die körperliche Dimension der Empathie: „Unsere edleren Bestrebungen kommen erst zum Zug, wenn unsere Grundbedürfnisse befriedigt sind. Falls Bindung und Empathie so fundamental sind, wie behauptet, sollten wir ihnen in allen Diskussionen mehr Beachtung schenken. Es gibt keinen Grund, diese Fähigkeiten nur von Menschen zu erwarten. Sie sollten bei jedem warmblütigen Geschöpf mit Haaren, Brustwarzen und Schweißdrüsen – die zu den definierenden Merkmalen von Säugetieren gehören – anzutreffen sein.“ (Vgl.de Waal 2011, S.96) – Diesen von de Waal hervorgehobenen Säugetiermerkmalen entspricht beim Gehirn vor allem das limbische System. (Vgl.de Waal 2011, S.95)

Anstatt also ein Schichtenmodell des menschlichen Bewußtseins zu entwickeln, wie es z.B. Damasio vorgelegt hat (vgl. Descartes’ Irrtum (8/2009) S.208ff.), legt de Waal ein Schichtenmodell der menschlichen Empathiefähigkeit vor: „Ich denke, dass die Empathie zu einem Erbe gehört, das so alt wie die Abstammungslinie der Säugetiere ist. Die Empathie nutzt Hirnareale, die mehr als hundert Millionen Jahre alt sind. Die Fähigkeit entstand vor langer Zeit mit motorischer Nachahmung und Gefühlsansteckung, woraufhin die Evolution Schicht um Schicht hinzufügte, bis unsere Vorfahren nicht nur fühlten, was andere fühlten, sondern auch verstanden, was sie möglicherweise wünschten oder brauchten.“ (de Waal 2011, S.269)

De Waal befindet sich damit im Einklang mit Damasio, der ja ebenfalls großen Wert auf die Bedeutung der körperlichen Emotionalität für das menschliche Bewußtsein legt. Aber es ist eben eine andere Blickrichtung: nicht vom Gehirn auf den Körper, sondern vom Körper aus auf das Gehirn, bei dem dann eben auch vor allem das limbische System interessiert.

De Waals Schichtenmodell besteht aus folgenden Elementen: dem Synchronismus, der Gefühlsansteckung, der einfachen Empathie, der entwickelten Empathie, der Sympathie und der beteiligten Perspektivenübernahme, der eine unbeteiligte Perspektivenübernahme entspricht, die sich aber außerhalb dieses Empathiesystems befindet, und auf die wir in einem späteren Post noch gesondert eingehen wollen. Zu diesem Schichtenmodell gehört die „Ur-Anteilnahme“, bei der ich mir aber unsicher bin, ob ich sie dem Synchronismus oder der Gefühlsansteckung zuordnen soll, weil sie vom Synchronismus ein primär motorische Moment des Verhaltens und von der Gefühlsansteckung ein primär emotionales Moment beinhaltet. Bei der Ur-Anteilnahme handelt es sich um eine „blinde“, also dem Bewußtsein entzogene „Anziehung“, die z.B. Rhesusaffen veranlaßt, die Nähe notleidender Artgenossen aufzusuchen, ohne dabei ein wirkliches, zielbewußtes Tröstungsverhalten an den Tag zu legen oder gar Beistand zu leisten: „Es ist so, als hätte die Natur dem Organismus eine simple Verhaltensregel mit auf den Weg gegeben: ‚Spürst du, dass ein anderer leidet, geh hin und stelle Kontakt her.‘“ (de Waal 2011, S.129) – De Waal fügt hinzu, daß man daraus den Schluß ziehen könne, daß sich mitfühlendes Verhalten „noch vor dem Mitgefühl entwickelt“ habe. (Vgl.de Waal 2011, S.130)

Synchronismus bzw. „unbewußter Synchronismus“, wie es an einer Stelle heißt (vgl.de Waal 2011, S.71), ist jedenfalls ein reines Verhaltensphänomen. In Analogie zur Gefühlsansteckung könnte man hier vielleicht von ‚Verhaltensansteckung‘ sprechen. Dazu gehört das Schwarmverhalten von Fischen und Vögeln und das Herdenverhalten von Säugetieren, und mit Synchronismus ist auch das Gähnen, Applaudieren, Tanzen oder Marschieren gemeint, also allesamt Phänomene, bei denen das Verhalten kleinerer und größerer Gruppen von Individuen koordiniert werden muß. Synchronismus ist de Waal zufolge die „älteste Form der Anpassung an andere“ (de Waal 2011, S.74) und bildet damit die unterste Schicht bzw. den innersten Kern der russischen Puppe.

Die „Gefühlsansteckung“ (de Waal 2011, S.93, 103, 132, 185, 269u.ö.) geht über die bloße Verhaltenskoordinierung hinaus. Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke anderer Menschen versetzen uns automatisch in entsprechende Gefühlszustände. Sehen wir fröhliche Menschen, sind wir selbst fröhlich gestimmt, sehen wir traurige Menschen, sind wir selbst melancholisch gestimmt. Das widerfährt uns, ohne daß wir es kontrollieren können, selbst wenn wir Gesichter nicht bewußt wahrnehmen, wie z.B. bei Bildern auf einem Bildschirm, die nur ganz kurz gezeigt werden: „Gesichtsausdrücke auf einem Bildschirm bringen unsere Gesichtsmuskeln nicht nur zum Zucken, sondern lösen auch Emotionen aus. Die Versuchspersonen, denen man glückliche Gesichter gezeigt hatte, berichteten von positiveren Gefühlen als diejenigen, denen zornige Gesichter dargeboten worden waren, obwohl keine Gruppe die leiseste Ahnung hatte, was sie gesehen hatte.() Wir haben es hier also mit echter Empathie zu tun, wenn auch mit einer ziemlich primitiven Form, die man Gefühlsansteckung nennt.()“ (de Waal 2011, S.93)

De Waal unterscheidet zwischen einfacher und höher entwickelter Empathie. Bei der einfachen Empathie empfinden wir einfach nur mit, was ein anderer empfindet. Empathie ist also, wie schon das Wort sagt, ‚Mitgefühl‘. (Vgl.de Waal 2011, S.131) Zur höher entwickelten Empathie kommt noch die Fähigkeit der Perspektivenübernahme hinzu: „Diese Kombination aus emotionaler Erregung, die unsere Anteilnahme weckt, und dem kognitiven Ansatz, der uns eine Beurteilung der Lage ermöglicht, kennzeichnet die empathische Perspektivenübernahme. Diese beiden Seiten müssen sich die Waage halten.“ (de Waal 2011, S.136)

Als weiteren Schritt über die höher entwickelte Empathie hinaus nennt de Waal die Sympathie: „Sympathie unterscheidet sich von Empathie dadurch, dass sie proaktiv ist. Als Empathie bezeichnen wir einen Prozess, mit dessen Hilfe wir Informationen über jemand anderen sammeln. Sympathie dagegen spiegelt Besorgnis um den anderen wider und den Wunsch, dessen Lage zu verbessern.“ (S.120) – De Waal beschreibt z.B. unser Verhalten gegenüber Bettlern oder Obdachlosen. Wir fühlen durchaus mit ihnen mit und versetzen uns dabei in ihre Lage. Aber trotz dieser voll entwickelten Empathie, die wir an den Tag legen, müssen wir ihnen nicht unbedingt helfen. (Vgl.de Waal 2011, S.120f.) Wir können auch an ihnen vorbeigehen und sie ignorieren. Um zu helfen, muß oft noch etwas hinzukommen, ein zusätzliches Gefühl, das de Waal als „Sympathie“ bezeichnet. Sympathie geht also über Empathie hinaus, weil sie „proaktiv“ ist.

Wir könnten natürlich auch eine besondere ‚caritative‘ Einstellung haben, die uns jederzeit zum Helfen veranlaßt, ob wir den Hilfsbedürftigen nun mögen oder nicht. Das wäre aber schon ein komplizierteres kognitives Gebilde als z.B. die auf der Trennung von Ich und Anderem beruhende Perspektivenübernahme in der entwickelten Empathie. Bei einer bewußt caritativen Einstellung hätten wir es schon mit einer Weltanschauung zu tun. Sympathie steht aber noch in engerer Verbindung mit den verkörperten Automatismen der Empathie. Insgesamt bleibt diese von de Waal als „zweiteiliger Prozess“ beschriebene Verbindung von empathischen und kognitiven Ebenen der höher entwickelten Empathie (vgl.de Waal 2011, S.136) begrifflich unklar. Man hätte sich eine tiefergehende begriffliche Analyse gewünscht, in der emotionale, kognitive und proaktive Elemente der höher entwickelten Empathie im Detail deutlicher voneinander abgegrenzt werden, als es in de Waals Buch der Fall ist.

Letztlich handelt es sich also bei der Sympathie um eine weitere und insgesamt fortgeschrittenere Form der beteiligten bzw. „empathischen Perspektivenübernahme“ (de Waal 2011, S.136). Das Schichtenmodell der menschlichen Empathiefähigkeit überschreitet irgendwann in den späteren Schichten die Grenze zum Bewußtsein und wird zu dem, was Damasio im Unterschied zur Emotion ein Gefühl nennt: „Im Kern befindet sich ein automatischer Prozess, den viele Arten gemeinsam haben. Ihn umgeben äußere Schichten, die für eine Feinabstimmung von Zielen und Reichweite sorgen. Nicht alle Arten besitzen alle Schichten: Nur wenige übernehmen die Perspektive anderer, eine Fähigkeit, die wir meisterhaft beherrschen. Doch selbst die höchstentwickelten Schichten der Puppen bleiben normalerweise mit ihrem ursprünglichen Kern verbunden.“ (de Waal 2011, S.269)

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