„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 31. Mai 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

In meinem Post vom 20.05.2011 zu Frans de Waal hatte ich mein Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht, daß er den Menschen als vor allem friedliebend und der Gewalt abgeneigt beschreibt. Frans de Waal bezieht sich dabei insbesondere auf Dave Grossmans „On Killing“, wo Fälle beschrieben werden, in denen Soldaten in der Schlacht bewußt vorbeischießen. (Vgl. de Waal 2011, S.281ff.) Ein weiteres Indiz für die eher friedfertige Natur des Menschen, auf das sich de Waal bezieht, ist die „posttraumatische Belastungsstörung“: „Noch Jahrzehnte nach einem Krieg müssen Veteranen weinen, wenn sie an all die Toten denken, die sie gesehen haben.“ (De Waal 2011, S.283)

Ich war (und bin) der Meinung, daß die blutige Geschichte – zumindestens städtischer Zivilisationen (in früheren Epochen der Menschheitsentwicklung sieht das sicher anders aus) – eine deutlich andere Sprache spricht. Da aber meine eigene Lektüre zu diesem Thema viel zu unsystematisch und sporadisch ist, als daß ich mir hier ein eigenes Urteil zutrauen würde, habe ich am Ende des erwähnten Posts auf das gerade erschienene Buch von Neitzel und Weltzer verwiesen, in dem die Abhörprotokolle von gefangenen deutschen Wehrmachtssoldaten analysiert und ausgewertet werden. Inzwischen habe ich die entsprechenden Kapitel dieses Buches gelesen – die zahlreichen Protokolle selbst nur ansatzweise –, und ich kann mir jetzt zumindestens ein Urteil über die Vorgehensweise und – mit der Vorgehensweise verbunden – auch über die Resultate von Neitzels und Weltzers Analysen erlauben.

Dabei bleibt zunächst festzuhalten, daß Neitzel und Weltzer zu ganz anderen, gegenteiligen Ergebnissen, was die friedfertige Natur des Menschen betrifft, als de Waal kommen. Mit Bezug auf ein Zitat eines Oberstleutnants zum Vergnügen, das er beim Töten empfindet, halten Neitzel und Weltzer fest: „Wie das obige Zitat eines Oberstleutnants der Luftwaffe andeutet, könnte diese Vorstellung (daß man erst durch den Krieg ‚brutalisiert‘ wird – DZ) irreführend sein. Erstens nämlich sieht sie von vornherein davon ab, dass der Gebrauch von Gewalt eine attraktive Erfahrung, zum Beispiel eben ‚prickelnd‘ sein kann, und zweitens, dass es möglicherweise nicht mehr als eine ungeprüfte Hypothese ist, wenn man davon ausgeht, man müsse für den Gebrauch extremer Gewalt erst zugerichtet werden. Vielleicht genügen dafür nur eine Waffe oder ein Flugzeug, Adrenalin und das Gefühl von Macht über Dinge, über die man sonst keine Macht hat. Es könnte sein, dass die Hypothese der sukzessiven Gewöhnung an Gewalt mehr mit den Darstellungsstrategien der schreibenden Zeitzeugen und den Alltagsvorstellungen der wissenschaftlichen Autoren zu tun hat, als dass er der Wirklichkeit des Krieges entspricht. In unserem Material findet sich nämlich eine Fülle von Beispielen, die nahelegen, dass die Soldaten von vornherein extrem gewalttätig sind ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.83f.)

Was die Beurteilung der Grenzen individuellen Urteilens und Handelns im Krieg betrifft, werde ich in den folgenden Posts des öfteren auf de Waals Beleg für die eher friedfertige Natur des Menschen zurückgreifen, daß man auf einen Schießbefehl hin auch danebenschießen kann. Daß im Vietnamkrieg tatsächlich 50.000 Patronen auf einen getöteten Soldaten gezählt wurden, belegt nämlich nicht nur die Abneigung des Menschen zu töten, sondern auch, daß wir immer die Wahl haben, – selbst in „totalen Situationen“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.32) Darauf werde ich in meinem letzten Post zu Neitzel und Welzer noch gesondert eingehen.

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