„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Neitzel und Welzer wenden sich gegen eine „moralische“ Bewertung von Gewalt (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18, 34, 43f., 422), und sie sprechen sich an einer Stelle sogar prägnant für einen „unmoralischen“ Blick auf die Gewalt aus (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18). Als wissenschaftliches Ideal schwebt ihnen die Haltung eines Quantenphysikers vor: „Wird es in einer historischen oder soziologischen Analyse der Gewalt jemals möglich sein, in Betrachtung ihres Gegenstands die moralische Gleichgültigkeit zu entwickeln, die ein Quantenphysiker gegenüber einem Elektron hat?“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.422) – Diese Frage ist nicht etwa eine distanzierend rhetorische, als ginge es darum, eine grundlegende Skepsis gegenüber einem solchen Ansinnen zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr erscheint Neitzel und Welzer die physikalische Einstellung gegenüber einem gesellschaftlichen und individuellen Phänomen wie der Gewalt als durchaus erstrebenswert.

Es hat solche methodologischen Einstellungen menschlichen Bewußtseinsphänomenen gegenüber schon gegeben, und es gibt sie noch: ich verweise nur auf den hier schon öfter erwähnten Behaviorismus und auf die Luhmannsche Systemtheorie. Aber gerade von Welzer, dem Autor von „Klimakriege“, hätte ich sie am wenigsten erwartet. Wer sich mit solchem Engagement um eine menschenwürdige Zukunft sorgt wie Welzer, sollte doch diese humane Grundeinstellung gerade auch in seiner Forschungsmethodik berücksichtigen und nicht verleugnen.

Diese Forschungsmethodik enthält überhaupt so viele Brüche und nur halb durchdachte, schlecht begründete Behauptungen, daß die von Neitzel und Welzer angekündigten „überraschenden“ Ergebnisse nur vor diesem Hintergrund als überraschend erscheinen können. Allein die Feststellung, daß weltanschauliche Überzeugungen und sogar Charaktereigenschaften nur einen geringen Einfluß auf unser Handeln haben (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.15f., 44, 391, 416f.) und daß sich im Gegenteil sogar zwischen Denken und Handeln eine tiefe Kluft auftut, ist jedem Menschenkenner geläufig. Praktisch die ganze große Literatur in allen Kulturkreisen beruht auf dieser verstörenden Erfahrung, die wir Menschen schon immer mit uns selbst gemacht haben. Neu oder überraschend ist diese Erkenntnis jedenfalls nicht. Nicht zuletzt Plessner hat sie mit der exzentrischen Positionalität auf den Begriff gebracht.

Die Entscheidung gegen eine moralische Betrachtungsweise des Gewaltphänomens ist aber auch begrifflich völlig ungenügend untermauert. So wenden sich Neitzel und Welzer z.B. gegen den Begriff der Grausamkeit, weil er keine „analytische Kategorie“ sei, sondern eine „moralische“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18) Diese Aussage wird argumentativ weder vor- noch nachbereitet. Kein Wort darüber, was Neitzel und Welzer unter einer analytischen Kategorie und was sie unter einer moralischen Kategorie verstehen. Was wird mit dieser Aussage also bezweckt? Soll der Leser aus dem nicht weiter erläuterten Umstand, daß Grausamkeit keine „analytische Kategorie“ ist, schließen, daß Gewalt, im Unterschied zur Grausamkeit, eine analytische Kategorie ist?

Dann hätte ich aber gerne zuvor den analytischen Charakter dieser Kategorie näher erläutert gehabt. Zur Analytizität des Gewaltbegriffs würde für mich z.B. gehören, zwischen Tätern und Opfern zu differenzieren. Aber die Opferperspektive kommt bei Neitzel und Welzer überhaupt nicht vor. Abgesehen von den zahlreichen, historisch naheliegenden Verweisen auf Kommunisten und Juden etc. wird die Opferperspektive selbst nur an drei Stellen angesprochen: einmal um auf die Relativität von Gewalterfahrungen zu verweisen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.29) und ein anderes Mal um auf die Banalität hinzuweisen, daß die Täter- und die Opferperspektive verschieden sind (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.34). Auf die dritte Stelle werde ich später noch zu sprechen kommen. Gerade weil der letztere Hinweis auf die Verschiedenheit von Täter- und Opferperspektive so selbstverständlich wie banal ist, frage ich mich, warum Neitzel und Welzer diese Differenz nicht in ihren Gewaltbegriff aufgenommen haben. Es kommt immer nur die Täterperspektive vor, – und zwar in durch und durch entmoralisierter Form.

Das ist nicht etwa damit zu rechtfertigen, daß es sich bei dem Gegenstand, mit dem Neitzel und Welzer es zu tun haben, um Abhörprotokolle von deutschen Kriegsgefangenen handelt, also um Täter und nicht um Opfer. Selbstverständlich geht es in ihrem Buch um diese Täter, und daran ist auch nichts auszusetzen. Allerdings sollten sie im vorhinein – gerade im Interesse einer methodologischen Grundlegung ihrer Studie – den Gewaltbegriff umfassend geklärt haben, anstatt ihn durch eine einseitige Perspektive (die Täterperspektive, die dann auch noch entmoralisiert, also so gründlich wie möglich von jedem Bezug auf mögliche Opfer abgetrennt wird) zu verzerren und damit letztlich unbrauchbar zu machen. Keine Gewalt ohne Opfer: so viel Analyse sollte schon möglich sein dürfen, ohne dem Verdacht einer unsachlichen Moralisierung zu unterliegen.

Überhaupt ist es einfach nicht ausgemacht, daß es einen Widerspruch zwischen einer moralischen und einer sachlichen Perspektive auf das Gewaltphänomen gibt. Eher habe ich den Eindruck, daß der Versuch, die moralische Perspektive zu verunglimpfen, eng mit der Fokussierung auf den Gewalttäter und der Ausblendung des Opfers zusammenhängt. Diese ganze Problematik zum Gewaltbegriff hätte von Neitzel und Welzer ausführlich diskutiert werden müssen, um ihre schließliche Entscheidung, sich ausschließlich dem Tätermaterial zuzuwenden, anders als bloß faktisch, d.h. vom Material her, sachlich zu begründen. Die faktische Begrenzung durch das Material, die Abhörprotokolle, wird erst durch einen fundierten Gewaltbegriff sachlich begründbar.

Es gibt einen konzeptionellen Hintergrund, der Neitzels und Welzers Ignoranz gegenüber den Opfern auf den ersten Blick verständlich erscheinen läßt. In dem einzigen Kapitel, in dem sie sich an einem differenziereren Begriff von Gewalt versuchen (vgl. Neitzel/Welzer 2011, S.88-94), beziehen sie sich auf Jan Phillip Reemtsmas Konzept der autotelischen Gewalt. „Autotelisch“ meint aber nun tatsächlich nichts anderes als eine Gewalt, die sich selbst zum Ziel hat (vgl. Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne (2009), S.117), also eine Gewalt, in der das Opfer von vornherein keine Rolle spielt. Das Opfer wird ungeachtet seiner individuellen Persönlichkeit – also buchstäblich grundlos – zum Opfer, was wahrscheinlich die tiefste Verletzung ist, die man einem Menschen überhaupt zufügen kann.

Nun führt dieses Konzept bei Reemtsma – anders als bei Neitzel und Welzer – aber keineswegs zu einer Vernachlässigung der Opferperspektive. Ausführlich und detailliert beschreibt und analysiert Reemtsma die Folgen, die diese „Reduktion auf den Körper“ für das Opfer hat, und kommt zu dem Ergebnis, daß autotelische Gewalt letztlich das Wesen jeder Gewaltanwendung auf die Spitze treibt, nämlich von den Opfern „als primär körperlich“ wahrgenommen zu werden. (Reemtsma 2009, vgl.S.124ff.) – Reemtsma wendet sich insbesondere gegen verschiedene Konzepte von Gewalt, die in ihr vor allem das „Böse“ sehen (Reemtsma 2009, vgl.S.119f.), so daß es mal als verfehlter guter Wille, mal als negative Seite des Guten, also als der Schatten, den das Licht wirft, mal als notwendiges Übel, aus dem letztlich immer Gutes hervorgeht (Mephisto) etc., verstanden wurde. Das ist durchaus eine respektable Begründung für eine notwendige Entmoralisierung des Gewaltbegriffs. Aber dabei bleibt doch festzuhalten, daß Reemtsma dabei niemals die Opferperspektive unter den Tisch fallen läßt.

Hier ist also die dritte Stelle, an der Neitzel und Welzer nochmal auf die Opferperspektive zu sprechen kommen. Letztlich wird aber Gewalt nur in den Rahmen einer anthropologischen Bedürfnisstruktur des Menschen eingeordnet, also als ein Bedürfnis wie essen, trinken, atmen und Sex aufgefaßt. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.90) Damit ist der anthropologische Rahmen umschrieben, das ganze traurige Menschenbild, das ihren Analysen zugrundeliegt.

Damit haben wir ein weiteres Problem im methodischen Zugriff auf das Gewaltphänomen angesprochen, daß Neitzel und Welzer nämlich über keine stimmige Anthropologie verfügen. Zwar positionieren sie sich zunächst deutlich hinsichtlich der Freiheit des Urteilens und Handelns: „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es bei Menschen etwas Hochspezifisches, das ihr Bewusstsein ausmacht und die menschliche Gattung von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Menschen deuten, was sie wahrnehmen, und erst auf der Grundlage dieser Deutung ziehen sie Schlussfolgerungen, entscheiden und agieren sie.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.16) – Demnach lehnen sie einen den Menschen auf kybernetische Modelle reduzierenden Behaviorismus ab.

Aber von welcher Art ist das Bewußtsein, das die Wahrnehmungsreize deutet und interpretiert? Es ist ein Bewußtsein, das von Referenzen abhängig ist, das also irgendwie doch wieder nicht so frei ist, daß man hier von einem individuellen Verstand reden könnte. An dieser Stelle wird die Argumentation von Neitzel und Welzer seltsam verschwiemelt und verworren. So heißt es über die unterschiedlichen Referenzrahmen von Moslems und Abendländern: „... kein Mitglied einer der beiden Gruppen deutet, was er sieht, frei von Referenzen, die nicht er selbst gewählt und ausgesucht hat und die seine Wahrnehmungen und Interpretationen prägen, anleiten und in beträchtlichem Ausmaß steuern.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.17)

Wir haben es hier mit einer doppelten Verneinung zu tun, und wenn man sie zurückübersetzt in eine einfache positive Aussage, klingt sie eigentlich recht freundlich: sowohl Moslems als auch Christen sind demnach durchaus frei, sich der ihnen zur Verfügung stehenden ‚Referenzen‘ zu bedienen, um zu einem eigenen individuellen Urteil zu finden. Dann folgt aber gleich noch ein Satz mit einer doppelten Verneinung: „Das heißt nicht, dass es in besonderen Situationen nicht auch Überschreitungen des gegebenen Referenzrahmens gäbe und dass Neues gesehen und gedacht wird, aber das ist relativ selten der Fall.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.17) – Da stutzt man dann doch und fragt sich, ob man irgendwo was nicht richtig verstanden hat?

Übersetzt man sich den Folgesatz in eine einfache positive Aussage, so bedeutet er, daß wir ‚trotzdem‘ in der Lage sind, uns aus unserem Referenzrahmen zu befreien, daß uns das aber eher selten gelingt! – Wieso setzen Neitzel und Welzer diesen Satz mit seiner doppelten Verneinung in eine Opposition zum ersten Satz mit seiner doppelten Verneinung – warum benutzen sie überhaupt so viele doppelte Verneinungen? –, wo doch schon der erste Satz die Freiheit des Menschen zum individuellen Urteilen und Handeln behauptet hatte? Und wieso schränkt der Schlußteil des zweiten Satzes die im ersten Satz behauptete Freiheit gleich wieder so sehr ein, daß sie angesichts ihrer Seltenheit als bedeutungslos erscheint?

Die einfache Antwort muß wohl lauten: die Autoren haben den Überblick über ihre Satzkonstruktionen verloren, und das ist leider symptomatisch für die gesamte Begrifflichkeit, mit der sie operieren. An dieser Stelle jedenfalls soll nur eins ausgesagt werden: der Mensch ist seinem Referenzrahmen gegenüber unfrei, und das Bewußtsein, das ihn bestimmt, ist eben das seines Referenzrahmens, der ihm einen nur geringen individuellen Spielraum gewährt, – kurz: Moslems sind Moslems, und Abendländer sind Abendländer.

Wenn sich Neitzel und Welzer also der „Referenzrahmenanalyse“ bedienen, als einem „Instrument für die Rekonstruktion der Wahrnehmungen und Deutungen von Menschen in bestimmten historischen Situationen“ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.17f.), so ist die zugrundeliegende Anthropologie gelinde gesagt ‚desolat‘. Denn wenn diese Referenzrahmenanalyse es ermöglichen soll, „die Deutungen und Handlungen von Menschen“ zu verstehen, indem man „rekonstruiert, was sie ‚gesehen‘ haben – innerhalb welcher Deutungsmuster, Vorstellungen, Beziehungen sie Situationen wahrgenommen und wie sie diese Wahrnehmungen interpretiert haben“ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18), dann bleibt hier der Status des individuellen Bewußtseins, in dem diese Wahrnehmungen vollzogen werden, begrifflich völlig ungeklärt.

Und noch bedenklicher scheint es mir zu sein, daß genau diese „unmoralische“ Referenzrahmenanalyse es ermöglichen soll, „vergangene Handlungen“ nicht „zwangsläufig normativ“ zu interpretieren, weil man hier darauf verzichtet, „die normativen Maßstäbe der jeweiligen Gegenwart“ heranzuziehen. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18) Denn das heißt letztlich nur: wenn bestimmte „Kriegsverbrechen“ aus heutiger Sicht zum militärischen und/oder nationalsozialistischen Wertekanon gehören, sind sie eben keine Kriegsverbrechen mehr, denn es gilt ja weder unsere Sichtweise von heute noch die der Opfer, sondern ausschließlich die der Täter.

Neitzel und Welzer kommen so zu einem scheinbar weisen, geschichtlicher ‚Neutralität‘ verpflichteten Fazit: „Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst weiter teilt.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.422) – Dieser Satz klingt irgendwie gut, verbindet aber tatsächlich zwei Aussagen, die nicht notwendigerweise zusammengehören: ich kann nämlich sehr wohl weiterhin Gewalt als Abweichung definieren, ohne deshalb gleich gesellschaftlichen ‚Illusionen‘ zu verfallen! Letztlich schreiben Neitzel und Welzer ihrem Leser vor, was er denken darf und was nicht, und sie bleiben ihm dabei vor allem eines schuldig: eine klare methodische Begründung!

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