„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 16. Mai 2011

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011 (2009)

1.    Forschungsmethoden
2.    Die Natur des Menschen
    a)    Merkmale, Ursprungsmythen und Prinzipien
    b)    Egoismus und Selbst
    c)    Die russische Puppe (Schichtenmodell)
3.    Haltung und Empathie
    a)    Verkörperte Kognition
    b)    Der zweiteilige Prozeß
    c)    Der Abschaltknopf
4.    Unbeteiligte Perspektivenübernahme
5.    Ko-Emergenz-Hypothese

Wenn es darum geht, zu definieren, was ‚Egoismus‘ ist, versucht man oft, ihn von seinem Gegenteil, dem ‚Altruismus‘ abzugrenzen. Das ist auf den ersten Blick auch recht einfach: während der Egoist nur an sich denkt, denkt der Altruist auch an andere, und damit wäre die Sache klar. Bei einem zweiten Blick auf diese Verhältnisbestimmung fällt aber dann auf, daß die Motive von Egoisten und Altruisten eigentlich gar nicht so verschieden sind, wie es beim ersten Blick erschien. Beide, Egoisten wie Altruisten, denken im Grunde nur an ihr eigenes Wohlbefinden, wenn sie sich egoistisch oder altruistisch verhalten, so daß auch Altruisten im Grunde genommen Egoisten sind, – nur auf eine andere Art: „Wenn wir eine ‚wohlige Wärme‘, ein angenehmes Gefühl empfinden, weil wir die Not anderer lindern können, wird unsere Hilfe dann nicht zu egoistischem Handeln?“ (de Waal 2011, S.156)

Aus dieser Perspektive erscheint dann sogar Empathie, also Mitgefühl, als etwas im Kern Egoistisches. De Waal hält beide Sichtweisen – Empathie als egoistisches oder als altruistisches Gefühl – für falsch: „Wir können Empathie nicht unbedingt ‚egoistisch‘ nennen, weil eine vollkommene egoistische Haltung von den Gefühlen anderer einfach keine Notiz nehmen würde. Andererseits scheint es aber auch nicht zulässig zu sein, Empathie ‚selbstlos‘ zu nennen, wenn man durch den eigenen Gefühlszustand zum Handeln gebracht wird. Die egoistisch-selbstlos-Dichotomie könnte eine falsche Fährte sein. Warum sollten wir das Selbst gewaltsam von anderen zu trennen versuchen oder den anderen vom Selbst, wenn die Verschmelzung beider das Geheimnis unserer kooperativen Natur ist?“ (de Waal 2011, S.104)

De Waals Frage offenbart eine tiefe philosophische Einsicht in den individuellen und sozialen Sinn von Ich-Identität. Nicht wie sich Ich-Identität konstituiert, ist seine Frage, sondern wozu brauchen wir sie? Seine Antwort: um anderen helfen zu können. Das ist eine äußerst originelle, meiner Ansicht nach völlig neue Verhältnisbestimmung von Egoismus und Altruismus: „Warum sollte die Sorge um andere beim Ich beginnen? Zu dieser Frage gibt es eine Fülle von vagen Ideen, die, da bin ich mir sicher, von der Neurowissenschaft eines Tages geklärt werden.() Gestatten Sie mir hier eine eigene ‚selbstgestrickte‘ Erklärung: Höher entwickelte Empathie setzt sowohl mentale Spiegelung als auch mentale Trennung voraus. Die Spiegelung ermöglicht es, dass der Anblick eines anderen, der sich in einem bestimmten Gefühlszustand befindet, ein ähnliches Gefühl in uns selbst () erzeugen (kann). ... Dieser Mechanismus ist uralt: Er ist automatisch, setzt bereits in frühem Kindesalter ein und kennzeichnet wahrscheinlich alle Säugetiere. Doch darauf beschränken wir uns nicht – und hier kommt die mentale Trennung ins Spiel. Wir grenzen den eigenen Zustand von dem des anderen ab. Andernfalls wären wir wie das Kleinkind, das mit Weinen auf das Weinen eines anderen reagiert, aber den eigenen Kummer von dem des anderen nicht zu unterscheiden vermag. ... Das Kind muss sich von dem anderen distanzieren, um die tatsächliche Ursache zu identifizieren.“ (de Waal 2011, S.163f.)

Ich finde de Waals Analyse so einfach wie genial. Um anderen in einer Notsituation helfen zu können, ja, sogar schon um sie auch nur trösten zu können, müssen wir eine mentale Trennung vollziehen zwischen uns und dem Anderen. Die bloße Spiegelung der Gefühlzustände des Anderen würde uns genauso hilflos machen wie ihn selbst und anstatt zu trösten und zu helfen, würden wir nur im gemeinsamen Schmerz versinken: „Wir wären wie kleine Schiffchen, die gemeinsam schwimmen und gemeinsam sinken. Eine Gefühlswelle, und wir würden mit ihr in die Höhe getragen oder in die Tiefe gerissen. Um echtes Interesse an jemand anderem zu zeigen, anderen bei Bedarf zu helfen, müssen wir unser eigenes Schiff aufrecht halten. Das Selbstempfinden fungiert als Anker.“ (de Waal 2011, S.164) – Genau dafür brauchen wir eine gesunde Ich-Identität, ein ausgewogenes Verhältnis von Egoismus und Altruismus.

De Waal bringt auch ein wunderbares Beispiel für die Notwendigkeit eines solchen ‚Ankers‘: „Ein vierjähriger Schimpanse war dem Ersticken nahe, weil er in einem Klettertau hing, das sich zweimal um seinen Hals gelegt hatte. Er quälte sich lautlos, zappelte mit den Beinen. Der älteste, dominanteste Mann der Gruppe ging zu dem Opfer, hob es mit einem Arm an, löste dadurch die Spannung des Taus und wickelte es mit der freien Hand vom Hals des Jungen. ... Der männliche Schimpanse ... bewahrte die Ruhe und tat das einzig Richtige. Es setzt eine hohe Intelligenz voraus, um den natürlichen Impuls – Ziehen – zu unterdrücken und durch eine wirkungsvolle Handlungsweise zu ersetzen. Diese Beispiele illustrieren den zweiteiligen Prozess, auf den sich Hilfeleistung gründet: Emotion und Verständnis.“ (de Waal 2011, S.136)

Was es bedeutet, wenn einem dieser Anker fehlt, zeigt ein anderes Beispiel, von dem de Waal berichtet: „Als eine juvenile Orang-Utan-Frau sich mit dem Hals in einem Seil verfangen hatte, zerrte die Mutter unablässig an der Tochter, um sie zu befreien. Tierpfleger, die einzugreifen versuchten, wurden von der Mutter beiseitegestoßen, deren verzweifelte Rettungsversuche sich derart steigerten, dass sie der Tochter schließlich das Genick ausrenkte und sie auf diese Weise umbrachte“ (de Waal 2011, S.136) – Die überwältigende Empathie der verzweifelten Mutter hatte ihr die nötige Distanz geraubt, mit der sie die Lage ihrer Tochter hätte beurteilen können. Anstatt zu helfen, beschleunigte sie das tragische Ende ihrer Tochter.

Hilfeleistung beruht, so de Waal, auf einem „zweiteiligen Prozess“, mit einem empathischen und einem kognitiven Teil. (vgl.de Waal, S.137) Die Verschmelzung von Ich und dem Anderen ist der empathische Teil.  Die Trennung zwischen Ich und dem Anderen ist der kognitive Teil. Ohne diesen kognitiven Teil würden wir in einer Notsituation nicht sachgerecht helfen können. Die Spiegelung ist der empathische Prozeß. Ohne ihn würden wir nicht helfen wollen.

De Waals Verweis auf die Neurowissenschaft, die die Frage nach dem Sinn von Ich-Identität eines Tages klären wird, zeigt allerdings, daß de Waal die tiefe philosophische Bedeutung seines „selbstgestrickten“ Antwortversuchs noch nicht recht begriffen hat. Denn Fragen nach dem Sinn von etwas – ob es sich dabei nun um Verhaltensweisen handelt oder um geistige und seelische Zustände –, werden niemals von der Neurowissenschaft beantwortet werden können. Denn damit würde die Trennung von ‚Genen‘ und ‚Motiven‘, die de Waal zufolge „in der Biologie so selbstverständlich ist wie die zwischen Kirche und Staat überall außerhalb Georgia“ (vgl.de Waal 2011, S.59), unzulässigerweise wieder aufgehoben. Denn ob ich nun ‚Gene‘ an die Stelle von Motiven setze oder ‚Neuronen‘, es läuft in bezug auf die Motive auf dasselbe hinaus: beides macht den Begriff der Motivation überflüssig. Gene und Neuronen sind funktional zu unseren Motiven, mehr nicht.

Mir scheint vielmehr, daß de Waal mit dem von ihm beschriebenen zweiteiligen Prozeß der Hilfeleistung ein schönes Beispiel für Plessners exzentrische Positionalität liefert: Nur wenn sich der Helfer in die ‚Mitte‘ des Hilfebedürftigen versetzt, kann ihm dessen Anliegen zum eigenen werden. Und nur wenn sich der Helfer an der Peripherie ‚hält‘ (im Sinne der de Waalschen ‚Verankerung‘), also sich dem Hilfsbedürftigen gegenüberstellt, kann er sachgerecht in die Situation eingreifen und sie klären.

Der Schimpanse in dem Beispiel ist dazu in der Lage gewesen. Die Frage, die sich hier gleich stellt, wäre natürlich, ob er dann nicht auch im menschlichen Sinne exzentrisch positioniert sein muß, so daß wir hier also ein weiteres angebliches ‚Monopol‘ verlören? – Ich glaube das eher nicht. Die exzentrische Positionierung des Menschen bringt immer auch Identitätsprobleme mit sich – paradoxerweise, denn ist es nicht gerade das ‚Ich‘, das aus dieser exzentrischen Positionalität hervorgeht?

Letztlich ist es genau dieses Paradox – selbst zu sein im nicht-selbst-sein-Können –, das Plessner als spezifisch menschlich beschreibt und das er als exzentrisch kennzeichnet: Wir gewinnen uns, indem wir uns verfehlen. Schimpansen sind demgegenüber immer noch zentrisch positioniert. Die mit der menschlichen Exzentrizität verbundenen Identitätsprobleme sind nicht schimpansentypisch. So hat übrigens Rousseau auch die Kindheit vor der Pubertät beschrieben. Gesunde Kinder in einer gesunden Umwelt haben keine Identitätsprobleme. Die beginnen erst mit der Pubertät. – Haben Menschenaffen eine Pubertät?

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