„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Mai 2011

Viktor Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010 (2009)

  1. Gesellschaftliches Gedächtnis und individuelles Wachstum
  2. Entropie und das Prinzip der Negation
  3. Vergessen und Urteilsvermögen
  4. Analoge Gedächtnismedien und digitales Gedächtnis (fragmentierte Positionalität)
  5. Erinnern als Narrativität (Reembedding)
  6. Problembewußtsein wecken mit Verfallsdaten
Schon im ersten Post zu Mayer Schönberger war davon die Rede gewesen, daß zum Urteilsvermögen die Fähigkeit zu vergessen gehört, weil nur so der nötige Freiraum entsteht, um auf aktuelle Ereignisse situationsgerecht zu reagieren. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.152, 227) So gibt es z.B. eine seltene Krankheit, das „hyperthymestrische Syndrom“ (M.-Sch. 2010, S.32), das dazu führt, daß die davon Betroffenen nichts mehr vergessen können: „Kürzlich haben Forscher den Fall der 41-jährigen Kalifornierin A.J. veröffentlicht, die biologisch kaum vergessen kann.() Sie erinnert sich praktisch an jeden Tag seit ihrem elften Lebensjahr, und zwar an eine ungeheure, quälende Vielzahl von Einzelheiten.“ (M.-Sch. 2010, S.22f.)

A.Js. Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, ist damit praktisch vollständig blockiert: „Nicht als besondere Begabung erlebt A.J. ihr Gedächtnis, sondern als Bürde, die sie immer wieder daran hindert, Entscheidungen zu treffen und mit Dingen abzuschließen.“ (S.23)

Zur Entscheidungsfähigkeit gehört also die Fähigkeit des Vergessens. Umgekehrt bedeutet das allerdings, daß uns auf der Seite des ‚Erinnerns‘ als Grundlage unseres situationsgerechten Handelns, was früheres Wissen und vergangene Erfahrungen betrifft, nur unvollständige Informationen zur Verfügung stehen. Mayer-Schönberger verweist darüberhinaus auch auf unsere mangelnden Informationen bezüglich der Gegenwart und der Zukunft: „Unser Gedächtnis befähigt uns, auch bei unvollständigen Informationen Entscheidungen zu treffen, indem wir sowohl auf frühere Erfahrungen (das episodische Gedächtnis) als auch auf allgemeine Tatsachen, Gedanken über und Vorstellungen von der Welt (das abstrakte Gedächtnis) aufbauen – in der Hoffnung, dass das, was wir von der Vergangenheit behalten haben, den Mangel an Information über die Gegenwart und die Zukunft wettmacht.“ (M.-Sch. 2010, S.33)

Wie es das Gedächtnis anstellt, uns trotz eines so beeindruckenden Mangels an Informationen zu ‚zeitgerechtem‘ Handeln zu befähigen, läßt Mayer-Schönberger im Dunkeln. Kein Wort zu Damasios „rascher Kognition“, die ich selbst als „Haltung“ beschreibe, oder zur Lebenswelt (Husserl/Blumenberg). Auch hier fällt wieder Mayer-Schönbergers Selbstbeschränkung auf den Informationsbegriff negativ auf. So pauschalisiert Mayer-Schönberger z.B. die Menschheitsgeschichte mit dem Hinweis auf die Sprachentwicklung: „... in Afrika geschah vor 100.000 bis 50.000 Jahren etwas. Die technische Perfektion und die Verbreitung der Steinwerkzeuge nahmen sprunghaft zu. Es ist unwahrscheinlich, dass eine derartig schnelle Entwicklung und Ausbreitung von Neuerungen allein auf ‚learning by doing‘, also den mühseligen Prozess der Erschaffung eines prozeduralen Gedächtnisses zurückzuführen ist. Eine weitaus einleuchtendere Erklärung ist das Aufkommen von Sprache als neues, erheblich effizienteres Mittel zur Kommunikation und damit auch zur Informationsübertragung.“ (M.-Sch. 2010, S.35)

Mayer-Schönberger verschmilzt die beiden Phasen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit zu einer einzigen der Sprachentwicklung, so daß die mit diesen beiden Phasen verbundenen, unterschiedlichen Dynamiken und das eigentliche Kennzeichen der Mündlichkeit, ihre enorme Zeitspannen umfassende, relative Unveränderlichkeit nicht mehr in den Blick kommen können. Weder kann bei Zeiträumen von zehntausenden Jahren von einem „sprunghaften“ noch kann bei lebensweltlichen Veränderungen, wie sie das prozedurale Gedächtnis beinhaltet, von einem „mühsamen“ Prozeß die Rede sein. Lebensweltliche Veränderungen unterliegen nicht unserer Intentionalität, und nur intendierte Veränderungen können ‚mühsam‘ sein. Und im Unterschied zur mündlichen Phase der Menschheitsentwicklung kommt es erst in Schriftkulturen zu dynamischen und ‚sprunghaften‘ Entwicklungsverläufen!

Der undifferenzierte Zugriff auf ‚Sprache‘ wirkt sich entsprechend auf Mayer-Schönberges Gedächtnisbegriff aus, wie sich in folgendem, ebenfalls die mündliche Phase der menschlichen Sprachlichkeit ausblendendem Zitat zeigt: „Vor dem Aufkommen der Sprache erinnerte man sich kaum an die vorigen Generationen, ihre Erfahrungen, Vorstellungen und Werte – mit Ausnahme dessen, was im prozeduralen Gedächtnis erhalten blieb.“ (M.-Sch. 2010, S.35) – Wenn Mayer-Schönberger das generelle, große Vergessen noch in die Zeit vor der Sprachlichkeit des Menschen vorverlegt – überhaupt bliebe dann noch zu erörtern, inwiefern hier eigentlich noch vom Menschen die Rede sein kann –, wird der lebensweltliche Anteil der Sprache selbst nicht mehr thematisierbar. Daß Sprache selbst zur Lebenswelt gehört (aus der sie erst – und auch hier nur teilweise – mit der Entwicklung der Schrift herausfällt), kann nur dann erkannt werden, wenn man versteht, daß das große Vergessen eben ein Spezifikum der mündlichen Phase der menschheitlichen Kulturentwicklung ist, die eben weder dynamisch noch ‚sprunghaft‘ verlaufen ist, sondern in den bereits erwähnten evolutionären Zeiträumen von etwa 100.000 Jahren. Wann genau hier die Sprachlichkeit des Menschen anzusetzen ist, ist letztlich auch eine Frage, die sich auf verschiedene Sapiens-Formen verteilt.

Und erst vom lebensweltlichen Charakter sozialer Situationen und der mit ihm verbundenen individuellen Haltung (Damasios „rasche Kognition“) her, wird verständlich, wieso ein unvollständiges Erinnern uns zu zeitgerechtem Handeln befähigen kann. Unvollständiges Erinnern ist eben nur hinsichtlich des Informationsbegriffs als ‚unvollständig‘ klassifizierbar. Lebensweltliche Prozesse und individuelle Haltung aber sind Sinnphänomene, die ganz anders strukturiert sind. Mayer-Schönberger gibt selbst einen wichtigen Hinweis auf die Strukturen, die es hier zu beachten gilt, wenn er den Zeitbegriff ins Spiel bringt: „Vielleicht am wichtigsten ist die Gefahr, dass ein umfassendes digitales Erinnern die Zeit kollabieren lässt und unser Urteilsvermögen sowie unsere Fähigkeit zum zeitgerechten Handeln beeinträchtigt.“ (M.Sch. 2010, S.152)

Mit ‚Zeit‘ ist hier nicht etwa an Zeit als knappe Ressource gedacht, mit der man irgendwie ökonomisch umgehen muß, so als unterlägen wir hier wieder den Gesetzen der Entropie. So wie Mayer Schönberger den Zeitbegriff thematisiert, haben wir es hier mit einem völlig andersartigen Phänomen zu tun: mit Narrativität. Darauf möchte ich aber erst in einem der folgenden Posts zu sprechen kommen.

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