„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 20. Mai 2011

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011 (2009)

1.    Forschungsmethoden
2.    Die Natur des Menschen
    a)    Merkmale, Ursprungsmythen und Prinzipien
    b)    Egoismus und Selbst
    c)    Die russische Puppe (Schichtenmodell)
3.    Haltung und Empathie
    a)    Verkörperte Kognition
    b)    Der zweiteilige Prozeß
    c)    Der Abschaltknopf
4.    Unbeteiligte Perspektivenübernahme
5.    Ko-Emergenz-Hypothese

De Waal beschreibt die „unbeteiligte Perspektivenübernahme“ (de Waal 2011, S.272ff., 276f., 282ff.) als eine Art des Wissens um das Wissen anderer, die sich nicht darauf erstreckt, „was der andere möchte, braucht oder empfindet.“ (Vgl.de Waal 2011, S.135) – Unbeteiligte Perspektivenübernahme gehört nicht zu de Waals Schichtenmodell und unterliegt auch keinem Automatismus. De Waal scheint vielmehr der Meinung zu sein, daß es einer besonderen Disziplin bedarf, die uns erst die Fähigkeit verleiht, uns aus der ursprünglichen Bindung der „Ur-Anteilnahme“ zu lösen. Allerdings ist das nur eine Vermutung, denn wir erfahren nicht mehr darüber, als daß es sich um eine „außerordentliche Fähigkeit“ handelt und daß ihre Grundlage eine andere ist als die der Empathie: „Unbeteiligte Perspektivenübernahme ist, sofern man darüber verfügt, eine außerordentliche Fähigkeit, Empathie jedoch beruht auf einer anderen Grundlage, die eher mit der Situation und den Emotionen des anderen zu tun hat.“ (de Waal 2011, S.135)

An anderer Stelle bezeichnet de Waal die Perspektivenübernahme als „eine neutrale Fähigkeit“, die gleichermaßen „konstruktiven wie destruktiven Zwecken dienen“ kann. (Vgl.de Waal 2011, S.272) Die Spannbreite ihrer Funktionalität reicht von sachgerechten Hilfeleistungen, wie wir sie am Beispiel des älteren Schimpansen kennengelernt haben, der einem jüngeren Schimpansen aus einer Schlinge, in die er sich verfangen hatte, heraushilft (vgl.de Waal 2011, S.136), bis hin zu „Verbrechen gegen die Menschheit“, die, wie de Waal schreibt, „häufig auf dieser Fähigkeit (beruhen).“ (Vgl.de Waal 2011, S.272)

Leisten wir sachgerechte Hilfe, wie in dem Beispiel mit den beiden Schimpansen, haben wir es mit einer empathischen Perspektivenübernahme zu tun, benutzen wir sie hingegen als Instrument unserer Aggression, haben wir es mit einer unbeteiligten Perspektivenübernahme zu tun. – An dieser Stelle entstehen nun allerdings begriffliche Schwierigkeiten. De Waal differenziert nicht zwischen Empathie und anderen Emotionen. Er erweckt immer wieder den Eindruck, daß die Empathiefähigkeit den ganzen emotionalen Bereich abdeckt. Nur so kann der Begriff der unbeteiligten Perspektivenübernahme überhaupt verständlich werden: Wer keine Empathie zeigt, hat dann auch gleich überhaupt keine Emotionen, und wenn er dann ausgeklügelte Methoden der Gewaltausübung anwendet, so beruhen diese zwar auf einer Perspektivenübernahme – denn wie sonst sollte der professionelle Gewalttäter um ihre Wirksamkeit wissen –, aber diese Perspektivenübernahme ist eben unbeteiligt; denn hätte er Mitgefühl, wäre er ja nicht dazu fähig, anderen Schmerzen zuzufügen.

De Waal äußert durchaus selbst Zweifel an so einer jeder Emotionalität baren Perspektivenübernahme: allerdings nicht explizit gegen sein Modell einer unbeteiligten Perspektivenübernahme selbst, sondern indirekt, indem er sich gegen die Perspektivenübernahme als einer „Theorie des Geistes“ wendet. (Bgl.S.132): „Diese Terminologie ist problematisch, weil sie den Eindruck erweckt, das Verstehen anderer wäre ein abstrakter Prozess ... Ich bezweifle entschieden, dass der Mensch oder irgendein anderes Tier die Geistesverfassung eines anderen theoretisch erfassen könnte.“ (de Waal 2011, S.133)

An dieser Stelle argumentiert de Waal vor allem für sein Modell einer empathischen Perspektivenübernahme, – als einem Modell, das für die Menschen eine Universalie darstellt. (Vgl.de Waal 2011, S.270) Demnach gilt für jedes Politikmodell und für jede denkbare Gesellschaftsform, daß sie mit der Empathie der Menschen zu ‚rechnen‘ hat, – daß wir die Empathie in unseren sozialen Prinzipien und staatlichen Gesetzen positiv zu berücksichtigen haben; aus dem einfachen Grund, weil sich die Menschen in einer egoistischen Konkurrenzgesellschaft nicht wohlfühlen.

Dabei übersieht de Waal aber, daß er genau diese „Theorie des Geistes“ für die unbeteiligte Perspektivenübernahme in Anspruch nimmt: „Viel Ärger in der Welt lässt sich auf Menschen zurückführen, deren russische Puppe eine leere Hülle ist. Wie Wesen von einem anderen Planeten sind sie geistig in der Lage, den Standpunkt eines anderen ohne die begleitenden Gefühle einzunehmen. Mit Erfolg täuschen sie Empathie vor.“ (de Waal 2011, S.274) – Es sind also vor allem die „Soziopathen“ (vgl.de Waal 2011, S.63) und „Psychopathen“ (vgl.de Waal 2011, S.273), diejenigen, denen die Verbindung mit dem empathischen „Säugetierkern“ (ebd.) abhanden gekommen ist, die uns zeigen, daß es wohl doch möglich ist, „die Geistesverfassung eines anderen theoretisch (zu) erfassen“.

Ich denke aber, daß es doch eher so ist, daß Perspektivenübernahme immer ‚beteiligt‘ ist, ob nun im engeren Sinne empathisch oder im weiteren Sinne ‚emotional‘. Ich gehe mit Helmuth Plessner und Jan Philipp Reemtsma („Vertrauen und Gewalt“ (2009)) davon aus, daß Menschen nichts tun können, ohne damit etwas ‚auszudrücken‘ bzw. ohne sich damit zu identifizieren: „Menschen handeln nie einfach instrumentell, stets ist ein ‚existentielles‘ Moment im Spiel. ... Jede Tat ist auch eine Auskunft über den Täter und sagt, wer er ist und wer er sein will.“ (Reemtsma 2009, S.107)

Diese Feststellung richtet Reemtsma ganz explizit auf Gewalttäter aller Art und auf ihre emotionale Beteiligung an Gewaltakten. Es steht ihnen keine Entschuldigung zu, daß sie persönlich nicht Böses beabsichtigt hätten, – nicht einmal die Entschuldigung einer Pathologie. Die Gefühle selbst mögen pathologisch sein. Aber ohne Gefühlsbeteiligung gäbe es keine Handlung. Möglicherweise gibt es Krankheiten mit Zuständen vollständiger Apathie. Aber vollständige Apathie bedeutet eben auch vollständige Passivität.

De Waals Feststellung, daß Perspektivenübernahme und Empathie nicht die gleiche Grundlage haben, ist also letztlich nicht mal von de Waals eigenen Überlegungen her begründbar. Und überhaupt bleibt de Waal eine separate Grundlegung der unbeteiligten Perspektivenübernahme schuldig, es sei denn wir verstehen den Verweis auf die Psychopathologien als Versuch so einer Grundlegung. Aber reicht das für eine Funktion, die de Waal als „außerordentliche Fähigkeit“ kennzeichnet? (Vgl.de Waal 2011, S.135)

Statt also die kognitive oder die pathologische Dimension der unbeteiligten Perspektivenübernahme im Detail zu erkunden, wendet sich de Waal gegen Ende seines Buches der Frage zu, ob der Mensch einen „Killerinstinkt“ hat. De Waal bestreitet das ganz entschieden: „Die meisten Männer haben keinen Killerinstinkt. Es ist eine seltsame Tatsache, dass die Mehrheit der Soldaten, obwohl gut bewaffnet, niemals tötet. Im Zweiten Weltkrieg feuerte von fünf amerikanischen Soldaten nur einer tatsächlich auf den Feind. ... Ähnlich hat man errechnet, dass amerikanische Soldaten im Vietnamkrieg pro getötetem Soldaten mehr als fünfzigtausend Patronen verschossen. Die meisten Schüsse müssen in die Luft abgegeben worden sein.“ (de Waal 2011, S.282)

De Waal verweist noch auf einige ähnliche Beispiele, aus denen hervorgeht, daß auch gut ausgebildete Soldaten nur unter äußerstem Druck zum Töten bereit sind und dazu selbst mitten in der Schlacht noch von ihren Unteroffizieren wortwörtlich in den Hintern getreten werden müssen. So „besorgt den weit überwiegenden Teil allen Tötens im Krieg“ nur „1 oder 2 Prozent“ der Soldaten, und de Waal vermutet, daß diese zu jener „Kategorie der Menschheit“ gehören, „die gegen das Leiden anderer immun sind.“ (Vgl.de Waal 2011, S.283)

Vielleicht bin ich an dieser Stelle de Waals Thesen gegenüber zu kritisch. Wirkliche Gegenargumente stehen mir im Moment nicht zur Verfügung, und ich kann nur auf die in sich widersprüchliche Logik der de Waalschen Argumentation verweisen. Deshalb möchte ich diesen Post mit einer vertiefenden Lektüreempfehlung abschließen: Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Fischer S. Verlag.

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