„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. Februar 2023

Juli Zeh/Simon Urban, Zwischen Welten, München 2023

Zwischen Welten. Also nicht Zwischenwelten, sondern zwischen allen Stühlen; also: zwischen Stühlen. Zwei Menschen, ein Mann, eine Frau, die zusammen Germanistik in Münster studiert haben, und zwei, drei Jahre in einer WG zusammenlebten, treffen sich zwanzig Jahre später zufällig in Hamburg wieder, freuen sich, geraten in Streit, gehen im Zorn wieder auseinander und führen anschließend eine Brieffreundschaft; also e-mail und WhatsApp.

Sie fühlen sich zueinander hingezogen, leben aber zwei völlig konträre Leben. Als Leser (oder Leserin) bleibt es nicht aus, daß man sich im einen oder in der anderen wiedererkennt; in Stefan oder in Teresa. Der Streithandel, den sie leidenschaftlich gegeneinander austragen, ist auch der eigene Streithandel. Ich ergreife Partei: für Teresa gegen Stefan.

Stefan ist ein arrogantes Arschloch, das gerne anderer Leute Bewußtsein korrigiert, im Namen einer besseren Welt. Auch Teresa, die er liebt und die ihn nur mag, bleibt davon nicht verschont. Immer wieder läßt er sie spüren, daß er sie für geistig unterlegen hält, so z.B., als sie ihm vorwirft keinen Humor zu haben: „Ich diskutiere mit einer Landwirtin aus Brandenburg über Politik – welchen Beweis, dass ich Humor habe, brauchst Du noch?“ (Zeh/Urban 2023, S.113) – Oder: „Ich beschäftige mich beruflich mit diesen Themen. Du nicht. Wie soll da ein Gespräch auf Augenhöhe gelingen?“ (Zeh/Urban 2023, S.174) – Oder: „Mit Verlaub, Tessa, aber das verstehst du nicht. Wirklich nicht.“ (Zeh/Urban 2023, S.265)

Die Quelle von Stefans ‚white supremacy‘, vielleicht ‚male supremacy‘, wie er es nennen würde, wenn er zu so was wie Selbstreflexion in der Lage wäre, ist seine Position als stellvertretender Chefredakteur des Boten in Hamburg, einer Wochenzeitschrift, in der man unschwer DIE ZEIT wiedererkennt, während Teresa nur eine Kuhbäuerin in Brandenburg ist. Stefans e-mail-Texte sind komplett durchgegendert. Mein Lieblingssternchenwort ist „Künstler*innenfreund*innen“ (vgl. Zeh/Urban, S.121): zwei Sternchen in einem Wort!

Seine Texte erinnern mich an Formulare zur Erfassung der Identität von Leserinnen und Lesern: bitte ankreuzen, was zutrifft. Erst danach ist man befugt, sich dem Inhalt zuzuwenden.

Natürlich fühlt sich Stefan verpflichtet, Teresa über den Feminismus zu belehren. Welche Überheblichkeit!

Und Teresa? – Nach ihrem Studium hat sie den Hof ihres Vaters übernommen, und zweihundert Milchkühe. Sie liebt ihre Kühe, will ihnen ein würdiges Leben ermöglichen, weigert sich, den Mutterkühen ihre neugeborenen Kälbchen wegzunehmen, um den Milchertrag zu erhöhen. Und sie fühlt sich für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Sie ist die größte bzw. einzige Arbeitgeberin des Dorfes, kann sich aber ihre Belegschaft eigentlich gar nicht leisten. Trotzdem entläßt sie einen ihrer Mitarbeiter erst, als er versucht sie zu vergewaltigen, und nicht schon vorher wegen seiner Trunkenheit und Fahrlässigkeit als Fahrer ihrer Landwirtschaftsmaschinen. Und sie hat trotzdem noch Gewissensbisse.

Ihren Hof kann sie gerade so halten, an der Schwelle zur Insolvenz, in ständigem Kleinkrieg mit Agrarverordnungen und Anträgen, die am Ende dann doch wieder abgelehnt werden aus Gründen, deren Willkür die Antragsstellerin an ihrem Verstand zweifeln läßt. Wenn sie sich bei Stefan beklagt, muß sie sich Belehrungen über die Schuld der Landwirtschaft am Klimawandel anhören und setzt sich sogar seinem Verdacht aus, Querdenkerin zu sein und der AFD nahezustehen.

Wenn ich Teresas e-mails lese, lese ich von einem offline-Leben, das Leben einer Frau, die mit beiden Beinen in der analogen Realität steht. So z.B. wenn sie schreibt: „Für mich sind deine Schilderungen Nachrichten aus einer fremden Welt. Dispatches from elsewhere. Ob du es glaubst oder nicht – ich musste nicht nur ‚White Supremacy‘ googeln, sondern auch ‚Thermomix‘.“ (Zeh/Urban 2023, S.30)

Geht mir genauso beim Lesen von Stefans Texten. Aber ich googel sein Newspeak nicht. Ich habe nicht den Ehrgeiz, meine offline-Blase damit zu bereichern. Das Hauptkennzeichen einer solchen Blase ist es nämlich, zu keiner Blase zu gehören, sondern sich selbst zu genügen. Gehören Blogs eigentlich zur social media? Meiner jedenfalls nicht. Likes sind bei mir nicht zugelassen und Kommentare sind rar gesät. Mein Blog ist meine Nische. Jenseits von Shitstorm und Medienhype. Meine perönliche online gestellte offline-Blase.

Dann aber gerät einiges durcheinander bei Stefan und Teresa. Er erlebt, wie sein väterlicher Freund Flori Sota, Chefredakteur des Boten, der mit seiner ironischen Art (und auch seine Talkshows werden erwähnt) an Giovanni di Lorenzo erinnert, durch einen Shitstorm – der Mob versteht keine Ironie – vernichtet wird. Gleichzeitig erlebt er, wie sich Teresa, die mit ihrem Hof in eine immer ausweglosere Situation gerät, radikalisiert und sich in eine Aktivistin für die Interessen der Landwirte verwandelt. Beide kommen einander immer näher, und an einem Punkt, an dem sie kurz davor sind, zu einem Liebespaar zu werden, gelangt Stefan zu Einsichten, die ihn dazu veranlassen, sich von seiner früheren PC-Korrektheit (ich weiß, das ist ein Pleonasmus) zu distanzieren:
„Wir alle sind Zufällen und Schicksalsschlägen unterworfen, niemand von uns kann die Außenwelt, die Mitmenschen wirklich beeinflussen. (Wenn ich in meinem Leben gerade etwas lerne, dann das!) Es gibt im Grunde nur eine einzige Sache, über die wir wirklich Gewalt haben – unseren eigenen Kopf, unser Denken und Handeln.“ (Zeh/Urban 2023, S.350)
Und Stefan beginnt sich Fragen zu stellen, die die Grundfesten seiner bisherigen so sorgfältig wie selbstgerecht eingerichteten Welt ins Wanken bringen:
„Ist Kommunikation zu einem kollektiven Verbrechen geworden, das jeden zum Täter macht, der sich daran beteiligt? Ist Unschuld heutzutage nur noch im Funkloch möglich – oder nachdem man alle Smartphones, Tablets und Notebooks in den Müll geworfen hat?“ (Zeh/Urban 2023, S.369)
Das Textbild seiner e-mails hat sich geändert. Sie sind zum Fließtext geworden; nicht mehr unterbrochen von Gendersternchen.

Aber während Teresa untertaucht und allmählich verschwindet – ‚ghosting‘ nennt man das wohl auch –, währt dieser Moment der Klarsicht nicht lange. Nachdem der Shitstorm Flori Sotas Familie in die Emigration getrieben und ihn selbst zerbrochen hat, ist der Chefredakteursposten freigeworden, und der wird ihm nun angeboten, im Doppel mit der PoC Carla vom online-Ressort. Stefan kann nicht widerstehen und träumt wieder davon, Teil einer besseren Welt sein zu dürfen, als Kapitän des zur „Bot*in“ umgetauften Flaggschiffs einer auf politischkorrekte Haltung verpflichteten Presse. – Und er beginnt wieder zu gendern.

* * *

Das ist meine Zusammenfassung dieses Buches; des Romans, denn so wollen Autorin und Autor ihr Buch verstanden wissen. Wir haben es also mit einer Fiktionalisierung zu tun, die nicht mit der Realität gleichgesetzt werden will. Jede und jeder kann sich einen eigenen Reim darauf machen. Und seine Position festlegen. Mein Vorschlag: zwischen den Stühlen.

2 Kommentare:

  1. Manchmal ist das Leben schon schön wunderbar. Gestern beim Frühstück mit Hans-Christian Blum im "Herz über Kopf/Meschede" von ihm dieses von Detlef Zöllner bewertete Buch empfohlen bekommen. Zu dem Buch rumgegoogelt und dann hier gelandet. Zwei Menschen, die ich sehr schötze, schätzen ein Buch. Ich werde es lesen. Interessant ist für mich, auch als Psychologe, der Motor, der den Text am laufen hält: es ist ein Streit, ein Konflikt, eine Dissonanz. An Dissonanzen können wir wachsen. Der Umgang mit Scheitern interessiert mich sehr. Die kreativen Antworten auf die Herausforderungen. (Siehe in diesem Zusammenhang auch: https://www.derstandard.at/story/2000002036838/erziehungswissenschafter-zoellner-70-prozent-der-lehrertaetigkeit-sind-schauspielerei)

    So, nun muss ich mich wieder meinen beiden Umzügen widmen, sonst scheitere ich daran ...

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  2. Hallo Michael,
    danke für Deinen Kommentar. Wenn ich aber an meinen Auftritt in Wien denke, zu dem der von Dir beigefügte Link gehört, habe ich ambivalente Erinnerungen. Es war ein drückend heißer Tag in Wien, und um die dicht bei dicht sitzenden Studentinnen und Studenten nicht zu überfordern, habe ich auf meinen vorbereiteten Vortragstext verzichtet und frei gesprochen. War aber trotzdem, auch für mich, alles in bißchen zu viel Hitze. Und das beigefügte Photo im Standard gefällt mich überhaupt nicht.
    Alles Gute für Deine Umzüge!

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