„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 19. Februar 2019

Karl May: Christlicher Humanismus, Patriotismus und Völkerkunde

Ich hatte unlängst das Bedürfnis, mal wieder ein Karl-May-Buch zu lesen. Aus gegebenem Anlaß – europaweit laufen die Menschen Populisten hinterher, die die nationale Karte spielen und mit der Angst vor Überfremdung Wählerstimmen einsammeln – hatte ich daran denken müssen, wie Karl May in seinen Reiseromanen immer alles ‚Deutsche‘ im besten Licht erscheinen ließ und alle schlechten oder wenigstens fragwürdigen Charakterzüge gerne bestimmten Völkern bzw. Ethnien zuordnete, den Armeniern und Levantinern beispielsweise:
„Ich habe es schon gesagt und sage es hier wieder, natürlich im allgemeinen gesprochen und den Durchschnitt gemeint, daß mir ein Kurde zehnmal lieber ist als ein Armenier, obgleich der letztere ein Christ ist. Wenn und wo auch im Oriente irgend eine Niederträchtigkeit geschieht, da hat gewiß ein Levantiner, ein Grieche oder, was noch viel leichter denkbar ist, ein habichtsnäsiger Armenier die Hand im Spiele.“ (Karl Mays Werke: Im Reiche des silbernen Löwen II. KMW-IV.23, S.476 (Greno Verlag))
In US-Amerika sind es meistens die Yankees, die die Rolle des Bösewichts übernehmen müssen; oder auch die Mormonen. Aber fast nie sind es die Deutschen, obwohl es schon damals nicht wenige davon in dieser Weltregion gab.

„... diese Halbblutleute ...“

Noch schlimmer ist es in Karl Mays Augen allerdings, wenn jemand ein ‚Mischling‘ ist und keiner Ethnie zugeordnet werden kann, weil er seiner ‚Erkenntnis‘ zufolge immer nur die schlechten Eigenschaften der beiden Elternteile erbt. Sogar in seinem letzten, zum Spätwerk zählenden Buch „Winnetous Erben“ (1910) läßt sich der unter dem Pseudonym „Mr. Burton“ reisende May von seiner Frau darauf ansprechen:
„‚Ein Mischling!‘ sagte sie. ‚Du bist doch immer der Meinung, daß diese Halbblutleute meist nur die schlimmen Eigenschaften ihrer Eltern erben?‘“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.306 (Greno Verlag))
Kein Wunder, daß Old Shatterhand Nscho tschi nicht heiraten wollte!

Einer dieser „Halbblutleute“, auf die sich Mrs. Burton, alias Frau May, bezieht, ist Mr. Paper, der Sekretär des Denkmalskomitees, ein unangenehmer Mensch und insgesamt ein Schurke. Allerdings geht es noch schlimmer. Antonius Paper ist immerhin ein ‚halber‘ Weißer. Aber mehr als ein Schurke, geradezu ein Unmensch, ist der Kantinenwirt, der ein ‚halber‘ Afroamerikaner ist, „mit indianischen Gesichtszügen, aber aufgestülpter Negernase und echter Mohrenhaut. Einen treffenderen Typ der Brutalität als ihn konnte man sich wohl kaum denken“. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S.560 (Greno Verlag))

In dem kurzen Wortwechsel zwischen Mrs. Burton/May und Mr. Burton/May wird mit keinem Wort erwähnt, daß auch Old Surehand und Apanatschka und deren Söhne, weitere wichtige Akteure in „Winnetous Erben“, ebenfalls ‚Mischlinge‘ sind, aber keineswegs Schurken oder Unmenschen wie Mr. Paper und der Kantinenwirt. Wie so viele andere inhaltliche Inkonsistenzen wird das einfach so hintereinander wegerzählt und weder explizit noch implizit im Handlungskontext reflektiert; wenn man mal davon absieht, daß Mr. Burton/May seiner Frau mit einem knappen „Ja, meist.“ antwortet. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.306 (Greno Verlag)) Also nicht alle Mischlinge sind erblich belastet, sondern nur die meisten.

Allerdings bleibt auch Old Surehand, was seine Herkunft betrifft, zwar an anderer Stelle, aber eben doch, nicht verschont. In „Old Surehand III“ wird er von einem Utah-Häuptling darüber belehrt, daß die „Bleichgesichter“, die „rotes Blut in den Adern haben“, die „Schlimmsten“ seien, „die es giebt“. Immerhin beeilt sich der diese Szene belauschende Shatterhand/May, dem Leser zu versichern, daß Old Surehand weder das Äußere „und noch viel weniger den Charakter eines Mestizen“ habe. (Vgl. Karl Mays Werke: Old Surehand III. KMW-IV.20, S.388 (Greno Verlag))

Gegen Indianer hatte Karl May ansonsten nichts. Zwar gibt es auch hier die ewigen Bösewichter in Gestalt der Sioux, der Komantschen und Kiowas, aber an deren Bosheit sind nicht sie selbst schuld, sondern die Weißen. Die Apatschen sind aber immer gut.

Angesichts des obigen Zitats zum halbindianischen afroamerikanischen Kantinenwirt fällt es mir schwer, etwas zu Mays Ausführungen zu dunkelhäutigen Menschen zu schreiben. Einerseits tritt er, immer wieder mit Verweis auf seinen christlichen Hintergrund, als entschiedener Gegner der Sklaverei auf, aber seine Beschreibungen dunkelhäutiger Menschen sind gespickt mit geradezu peinlichen Stereotypien. Und in einem von May als Redakteur verantworteten Buch mit dem biblischen Titel „Das Buch der Liebe“ (1876?) ist sogar von den „affenartigen Negerstämme(n) vom obern Nile“ die Rede und davon, daß der „Papua dem Thiere näher steht, als den geistig hochentwickelten Bewohnern unserer Culturländer“. (Vgl. Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel, S.406-407 (Greno Verlag)) Allerdings ist zweifelhaft, ob es sich dabei um direkt aus Mays Feder stammende Textstellen handelt.

In „Die Sklavenkarawane“ (1889/1890) finden sich widersprüchliche Stellen: Im Gespräch mit einem arabischen Emir bestätigt Schwarz, der deutsche Protagonist, dem Emir, daß dessen in früher Kindheit entführter Sohn, ein „guter Mensch“ sei und „überhaupt nicht so tief (steht) wie ein gewöhnlicher Neger“. (Vgl. Karl Mays Werke: Die Sklavenkarawane. KMW-III.3, S.266 (Greno Verlag)) – „Er weiß“, so Schwarz, „daß er den Schwarzen überlegen ist; dieses Bewußtsein spricht sich in seinem Wesen, in seiner Erscheinung aus ...“ (Vgl. ebenda)

An anderer Stelle aber dominiert dann wieder Mays christlicher Humanismus, in dem alle Menschen vor Gott gleichgestellt sind. Dort heißt es bezüglich zweier Afrikaner, die sich in Lebensgefahr begeben, um ihre in Gefangenschaft geratenen Verwandten und Freunde zu befreien:
„‚Das sind nun zwei lebende Beispiele von den verachteten Menschen, denen man in Europa nachsagt, daß sie fast auf der Stufe der Tiere stehen‘, sagte Schwarz. ‚Unter tausend Weißen würde sich wohl kaum einer finden, der für seine Landsleute das wagte, was diese beiden wackern Kerls riskieren.‘“ (Karl Mays Werke: Die Sklavenkarawane. KMW-III.3, S.584 (Greno Verlag))
Solche Stellen finden sich auch in anderen Karl-May-Büchern immer wieder, etwa in „Old Surehand“ (1894/95), wo Shatterhand/May zunächst im besten christlich-humanistischen Eifer dem unverbesserlichen Rassisten Old Wabble eine Predigt über die Gleichheit der Menschen hält:
„Ich beabsichtigte, aufrichtig, aber nicht höflich zu sein. Ich bin nicht höflich gegen Leute, welche ihre Nebenmenschen verachten. Wenn man Euch einmal in die Erde scharrt, wird aus Eurem weißhäutigen Leibe grad und genau so ein stinkiger Kadaver wie aus einer Negerleiche. Das werdet Ihr wohl zugeben, und nun habt die Güte und zählt mir einmal Eure sonstigen Vorzüge auf! Es sind alle, alle Menschen Gottes Geschöpfe und Gottes Kinder, und wenn Ihr Euch einbildet, daß er Euch aus einem ganz besonders kostbaren Stoffe geschaffen habe und daß Ihr sein ganz besonderer Liebling seiet, so befindet Ihr Euch in einem Irrtum, den man eigentlich gar nicht begreifen kann.“ (Karl Mays Werke: Old Surehand I. KMW-IV.18, S.241-242)
An späterer Stelle im selben Buch bescheinigt Old Shatterhand dem „Neger Bob“, um den es in dieser Auseinandersetzung mit Old Wabble ging, nicht etwa nur ihm selbst, sondern auch seiner „Rasse“ wegen, beschränkte geistige Fähigkeiten, auf die er sich bei der Suche nach einer Oase im Liano Estacado nicht verlassen kann, obwohl er, also Bob, dort zuhause ist:
„Zwar war der Neger bei mir, aber, die geistigen Schwächen seiner Rasse überhaupt nicht gerechnet, war er stets nur mit Bloody-Fox durch die Wüste geritten, hatte sich auf diesen verlassen und konnte mir also nicht die geringste Auskunft geben.“ (Karl Mays Werke: Old Surehand I. KMW-IV.18, S.317-318)
Predigten zur Gleichheit aller Menschen wechseln sich immer wieder mit platten Rassismen ab. Man hat den Eindruck, hier weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut, als wären Mays Gehirnhälften lobotomisiert. Zwei Autoren statt einem. Könnte man meinen. Letztlich also nur eine weitere inhaltliche Inkonsistenz.

Andererseits aber sind Afroamerikaner in Mays Reiseromanen immer durch eine überbordende kindliche Emotionalität gekennzeichnet, und sie sprechen ihre eigene Sprache, also englisch, so unbeholfen, als müßten sie sie erst noch lernen. Kinder haben ja bekanntlich im Christentum vor Gott einen besonderen Status und ganz ähnlich eben auch Völker oder ‚Rassen‘ im Kindheitsmodus (die ‚Erwachsenen‘ sind natürlich immer die christlichen Nationen). Auch die Indianer vergleicht Mr. Burton/May in „Winnetous Erben“ mit Kindern, die endlich erwachsen werden müssen, damit sie kulturell mit den Europäern auf Augenhöhe sind:
„Habt ihr begriffen, daß es keinem Volk erlaubt ist, Kind zu bleiben? – Daß ihr einst Kinder waret und nur darum dem Untergange zugetrieben wurdet, weil ihr nicht aufhören wolltet, Kinder zu sein? Habt ihr begriffen, daß ihr als Kinder eingeschlafen seid, um nun nach schweren Niagaraträumen als Männer zu erwachen?“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.286 (Greno-Verlag))
In „Old Surehand III“ rechtfertigt Shatterhand-May die Bestrafung einiger Übeltäter pädagogisch. Kinder bedürfen einer besonderen pädagogischen Aufmerksamkeit:
„Wie denke ich überhaupt über die Prügelstrafe? Sie ist für jeden Menschen, der noch einen moralischen Halt besitzt, fürchterlich; sie kann sogar diesen letzten Fall vollends zerstören. Aber der Vater straft sein Kind, der Lehrer seinen Schüler mit der Rute, um ihm grad diesen moralischen Halt beizubringen!“ (Karl Mays Werke: Old Surehand III. KMW-IV.20, S.307 (Greno Verlag))
Genauso erklärt Karl May dem jungen Adler die mißliche Lage der Indianer als eine Form göttlicher Pädagogik. Und genau in dieser Tradition steht auch der Kolonialismus. Der angebliche Kindheitsstatus der indigenen Völker galt als päpstlicherseits hochoffiziell beglaubigte Rechtfertigung für die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft im Dienste der Plünderung der Ressourcen ihrer Länder, was man auch einfach ‚Kolonialismus‘ nennt. Diese ‚Christianisierung‘ (via Kolonialisierung) der indigenen Bevölkerung, also die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zum Zwecke ihrer kulturellen Weiterentwicklung, erwies sich für die spanischen Konquistadoren als wesentlich kostengünstiger als die Sklavenhaltung. Insofern verträgt sich Mays christlicher Humanismus mit gelegentlichem Rassismus eigentlich ganz gut. Auch wenn die weiter oben erwähnte Stelle aus dem „Buch der Liebe“ nicht aus Mays eigener Feder stammt: sie paßt zu seiner christlichen Evolutionserzählung.

Um May eine Ehre zu erweisen, muß ich hier festhalten, daß er zumindestens kein ausgeprägtes Judenfeindbild propagiert. Zwar müssen Juden in Mays Heimat- und Fortsetzungsromanen immer wieder als geldgierige Kulisse für das Elend und die Armut der notleidenden Bevölkerung herhalten; aber abgesehen von diesen damals üblichen Antisemitismen kommen Juden bei ihm durchaus auch als Opfer vor, und nicht selten setzen sich dann Mays Protagonisten für sie ein. Es gibt auch eine beachtliche Antwort Mays auf den Leserbrief eines jungen Juden, der sich von seinen Romanen zum Christentum bekehrt fühlte und konvertieren wollte. May riet ihm davon ab, da die jüdische Religion nicht weniger wertvoll sei als das Christentum und zudem die Religion seiner Väter sei.

Von Stinktöpfen und andren üblen Gasen

Wie mir das so durch den Kopf ging, fiel mir eins seiner Bücher ein, in dem die deutschen Protagonisten zunächst nicht als moralisch überlegene Athleten und Alleskönner in Erscheinung treten, sondern eher als Karikaturen aus der deutschen Provinz, die niemals die Grenzen ihrer Heimat verlassen hatten, dann aber plötzlich den wunderlichen Entschluß fassen, eine Reise nach China zu machen. Bei diesem Buch handelt es sich um „Kong-Kheou“ (1888/89) bzw. „Der blaurote Methusalem“.

Ich hatte plötzlich Lust dieses Buch, das ich zuletzt als kleiner Junge gelesen hatte, erneut zu lesen, weil ich dachte, daß es vielleicht ganz unterhaltsam wäre, mit meinem heutigen multikulturellen Horizont, Karl May dabei zuzusehen, wie er die deutsche Provinz vor dem Hintergrund einer Reise durch China karikiert. Denn um Karikaturen handelt es sich bei den Figuren um den „Methusalem“ herum, dem Diener Gottfried mit Wasserpfeife und Oboe, dem Kapitän Turnerstick, der allen Worten ein ‚-ing‘ oder ‚-ang‘ anhängt, in der Meinung, er spräche so chinesisch, und dem dicken Holländer Aardappelenbosch, dessen größte Sorge es ist, er könne seinen Appetit verlieren, dabei aber Mahlzeiten verschlingt, die für ganze Hochzeitsgesellschaften ausgereicht hätten. Der „Methusalem“, ein ewiger Student, der alles studiert, aber niemals ein Examen absolviert hat und eben deshalb von seinen Kommilitonen Methusalem genannt wird, wird von Karl May mit folgenden Worten beschrieben:
„Er trug einen blausamtenen Schnürenrock, eine rote Weste, weiße Lederhosen und hohe, lacklederne Stulpenstiefel, an denen ungeheure Sporen klirrten, welche mexikanischen Ursprunges waren und deren Räder einen Durchmesser von drittehalb Zoll besaßen. Auf den lang herabwallenden, dichten Locken saß ein rotgoldenes Cerevis. Die Hände trug er weltverächtlich in den Hosentaschen. Zwischen den Zähnen hielt er das Mundstück einer persischen Wasserpfeife, deren Rauch er in dicken Schwaden von sich stieß.“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.11 (Greno Verlag))
Die beschriebene Bekleidung gehört Karl May zufolge zum damaligen Studentenoutfit. Sein Diener Gottfried – Methusalem ist sehr wohlhabend und kann sich nicht nur ein ausgiebiges Studium, sondern auch einen Diener leisten – ist mit derselben Bekleidung ausgestattet. Er trägt auch würdevoll die erwähnte Wasserpfeife hinter ihm her. Voran schreitet Methusalems Hund, ein Neufundländer, und dieser trägt ein leeres Bierglas im Maul. Dieses Bierglases wegen und aufgrund seiner Vorliebe für das dazugehörige Getränk kam der Methusalem mit seiner blaurot verfärbten Akoholikernase übrigens zu seinem Beinamen.

Als sich der ‚blaurote‘ Methusalem auf den Weg nach China macht, weigert er sich, auf seine Studentenkleidung zu verzichten. Auch sein Auftreten mit Diener, Wasserpfeife und Hund bleibt in der Fremde ganz dasselbe. Als ihm der bereits erwähnte Kapitän, der sich als ein chinesischer Mandarin verkleidet, vorschlägt, sich etwas Passenderes, vielleicht sogar etwas Chinesisches anzuziehen, man könne ihn sonst vielleicht auslachen, verweist Methusalem stolz auf seine deutsche Gesinnung:
„Ich habe wenig Lust, aus reiner Angst meine deutsche Abstammung zu verleugnen.“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.37 (Greno Verlag))
Es sind also eigentlich alle Zutaten für eine Groteske über den Patriotismus vorhanden, aber ich hatte vergessen, vor welchem Hintergrund sie sich abspielt. Bei der erneuten Lektüre wurde mir klar, daß mir mein Gedächtnis einen Streich gespielt hatte. Die eigentliche Groteske stammt nicht vom Autor, sondern richtet sich, von ihm unbeabsichtigt, gegen ihn selbst. Denn alles, was die seltsame Truppe auf ihrer Reise durch China erlebt, spielt sich vor dem Hintergrund einer beständigen Abwertung der chinesischen Kultur und Geschichte ab. Trotz aller satirischen Überzeichnung erweist sich die deutsche Kultur und Gesinnung der chinesischen als himmelhoch überlegen. Tatsächlich macht die lächerliche Erscheinungsweise der Reisegruppe die Herabsetzung der Chinesen nur noch schlimmer, denn sie können selbst solchen Witzfiguren nicht das Wasser reichen. Letztlich entpuppt sich der bierselige deutsche Student doch noch als ein weiterer Superheld, dem alles gelingt und dem nichts und niemand, schon gar kein Chinese, etwas anhaben kann.

‚Der‘ Chinese schlechthin wird immer wieder als feige und als grausam beschrieben, demgegenüber die Taten des Methusalem und seiner Truppe um so leuchtender erstrahlen. Die vieltausendjährige Kultur ist für Karl May nur der Beleg für deren Greisenhaftigkeit. Selbst Kinder sind schon Greise und spielen keine unschuldigen Kinderspiele, sondern lassen lieber ihrer Grausamkeit freien Lauf, wenn sie Grillen gegeneinander kämpfen lassen:
„Er (der „chinesische Knabe“ – DZ) ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.223 (Greno Verlag))
Ich will die Reihe solcher ethnologischen ‚Einsichten‘ nicht unnötig verlängern. Allerdings kann ich mich nicht enthalten, abschließend noch eine interessante ‚Studie‘ zu den chinesischen „Stinktöpfen“ zu erwähnen. Der Methusalem befindet sich mit seinen Leuten auf einer Piratendschunke. Es ist ihnen gelungen, sich aus der Kajüte, in der sie eingeschlossen gewesen waren, zu befreien und nun wiederum die Piraten unter Deck einzuschließen. Um die Piraten endgültig zu entwaffnen und zu fesseln, entscheiden sie sich, die an Bord vorhandenen Stinktöpfe einzusetzen. Darauf folgt eine ethnologische Erörterung des Autors:
„Nur der Chinese kann auf eine solche Erfindung verfallen. Der Räuber eines jeden andern Landes wagt sein Leben. Der chinesische Pirat besiegt seine Gegner mit Gestank!“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.204 (Greno Verlag))
Sogar unter Räubern gibt es also kulturelle Rangunterschiede, und die niedrigste Stufe nimmt dabei der chinesische Pirat ein. Was Karl May damals selbstverständlich nicht wissen konnte: Nur ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen seines Buches, im ersten Weltkrieg, werden die den Chinesen kulturell angeblich so überlegenen Deutschen etwas erfinden und zur Anwendung bringen, das die chinesischen Stinktöpfe an perverser Grausamkeit bei weitem übertrifft: das Senfgas. Weitere Hinweise auf die üblen Praktiken im ‚Umgang‘ mit Gas gerade in Deutschland erspare ich mir an dieser Stelle.

„Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns ...“

Obwohl Karl May das mit dem Senfgas also nicht hatte wissen können, ändern sich seine ‚Reisebeschreibungen‘ in seinem Alterswerk gegen Ende des 19. Jhdts. Zu Beginn des 20. Jhdts. erscheint sogar mit „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) ein Buch, in dem er mit solcherart kulturellem Überlegenheitswahn, wie er in „Der blaurote Methusalem“ zum Ausdruck kommt, abrechnet. In „Und Friede auf Erden“ schildert Karl May in fünf Kapiteln eine Reise nach China, die in Kairo beginnt und irgendwo an der chinesischen Küste endet. Auf dieser Reise begegnen sich verschiedene Nationalitäten: Araber, Chinesen, US-Amerikaner, Engländer, Deutsche, Malaien etc. Eigentlich erinnert dieses Buch nicht so sehr an einen Reiseroman als an ein Theaterstück in fünf Akten. Es passiert sehr wenig, aber es wird sehr viel geredet oder besser: gepredigt. Tatsächlich erinnern die Auftritte der verschiedenen Repräsentanten der Völkerfamilie an die „Geographischen Predigten“ (1875), die nach Aussage Karl Mays die Grundlage seiner Reiseerzählungen bildeten.

Allerdings kann sich Karl May auch hier nicht der für ihn anscheinend unvermeidlichen Verallgemeinerungen beim Beschreiben von Menschen enthalten. So heißt es z.B. von Sejjid Omar, der später sein Diener wird – Karl May tritt im Buch als Ich-Erzähler auf – :
„Sein Gesicht zeigte zwar auch den Zug von Verschlagenheit, der allen Eseltreibern eigen ist, aber er war nicht aufdringlich und lag seinem Geschäfte in einer Weise ob, als werde Jedem, der sich seines Esels bediente, eine ganz besondere Gunst erwiesen.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; (vgl. KMW-V.2, S.2 (Greno Verlag))
Man erfährt also, daß es geraten ist, sich vor Eselstreibern in Acht zu nehmen, denn sie sind alle ‚verschlagen‘, also hinterhältig. Aber immerhin: Sejjid Omar ist zwar zunächst ein Eselstreiber, doch ist er, wie sich dann herausstellt, bildungsfähig und letztlich das Musterbeispiel eines edlen und stolzen Arabers.

Trotz des das ganze Buch durchziehenden humanitären Anliegens einer übergreifenden Völkerfreundschaft unterläuft May aber bei der Beschreibung zweier Protagonisten seines Buches, Fu und Tsi, der Lapsus, Persönlichkeitsmerkmale gegen Rassemerkmale auszuspielen, nämlich in dem Sinne, daß sich ‚Geist‘ und asiatische Gesichtszüge gegenseitig ausschließen:
„Was ihre Gesichter betrifft, so trat der mongolische Schnitt derselben nur wenig hervor. Bei dem Sohne mochte diese Milderung eine Folge der Jugend sein; bei dem Vater aber war es ganz entschieden der Wirkung geistiger Tätigkeit zuzuschreiben, daß ihn fast nur der echt chinesisch gepflegte Bart als einen ‚Sohn der Mitte‘ verriet.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.4 (Greno Verlag))
Karl May arbeitet also weiterhin mit solchen Stereotypen, auf die er anscheinend einfach nicht verzichten kann. Trotzdem gibt er sich große Mühe, immer wieder klarzustellen, daß alle Völker und Nationalitäten einander gleichgestellt sind und keines als geringer gewertet werden darf als ein anderes: „Kein Mensch, kein Stand, kein Volk“ dürfe „sich rühmen, von Gott mit irgend einer speziellen Auszeichnung begnadet worden zu sein“. (Vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.24 (Greno Verlag))

Wenn doch mal was Negatives über eine spezielle Kultur gesagt werden muß, dann sind es nicht mehr die Chinesen, sondern es ist das kalte, selbstsüchtige Abendland, gegen das sich Karl Mays Verdikt richtet (vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.9 (Greno Verlag)); oder es sind die ‚Kaukasier‘ als Rassebegriff, unter den Karl May alle Kolonisatoren faßt, die meinen, den Rest der Welt nicht nur beherrschen, sondern auch missionieren zu müssen, weil sie sich ihm kulturell so außerordentlich überlegen fühlen:
„Man beobachte den Europäer, wie er aus hochmütigen Augen im fremden Lande um sich schaut! Der Schiffsjunge, welcher jetzt wegen unheilbarer Dummheit vom Maate mit dem Tau verhauen wird, geht eine Viertelstunde später mit dem erhebenden Bewußtsein an das Land, daß alle Malaien und Chinesen Penangs nicht wert seien, ihm die ochsenledernen Stiefel zu schmieren, und zwar nur deshalb, weil er ein Kaukasier aus Dorf Klapperschnalle ist!“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.203 (Greno Verlag))
Einem chinesischen Wissenschaftler gegenüber leistet Karl May als Autor gewissermaßen Abbitte für alle in seinen früheren Büchern verbrochenen Verbalinjurien gegenüber den eingangs erwähnten Armeniern und Levantinern, oder jener Entgleisung, als die man den „blauroten Methusalem“ bezeichnen muß:
„Ich liebe Ihre Nation. Ich liebe sie nicht weniger als jede andere Rasse. Auch mein Beruf ist, Bücher zu schreiben, ganz so, wie der Ihrige. Und ich versichere Ihnen, daß ich niemals imstande sein werde, ohne vorherige, genaue Prüfung mein eigenes Volk auf Kosten anderer Völker herauszustreichen!“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.170 (Greno Verlag))
May spricht hier von der Zukunft, in der er nicht mehr imstande sein wird, solche Bücher zu schreiben; was immerhin offen läßt, daß er früher schon solche Bücher geschrieben hat. So kann diese Textstelle immerhin als eine Entschuldigung für vergangene Sünden gelten.

Um noch einmal auf den ersten Weltkrieg zu sprechen zu kommen: Tatsächlich war es u.a. Karl Mays Absicht gewesen, mit „Und Friede auf Erden“ auch auf den deutschen Kaiser einzuwirken, von dem er wußte, daß er seine Bücher las. Er hoffte, ihn dahingehend beeinflussen zu können, nicht für den Krieg zu rüsten, sondern sich für den Frieden einzusetzen, was natürlich ziemlich naiv gewesen ist. Von dieser Naivität zeugt auch der durchgehende Predigtton der endlosen Monologe, aus denen die ‚Gespräche‘ bestehen und die die nacheinander auftretenden Repräsentanten der verschiedenen Völker halten, sich gegenseitig ihres Respekts und ihrer Liebe zueinander versichernd, alles getragen von einer frommen Gottgläubigkeit, die ich mir damals als kleiner Junge sehr zueigen gemacht hatte und auf die ich heute als ‚gereifter‘ Erwachsener mit Befremden zurückblicke.

Zu Beginn hatte ich bei meiner erneuten Karl-May-Lektüre nur nach ein wenig Leseunterhaltung gesucht. Nach „Kong-Kheou“ und „Und Friede auf Erden“ aber regt sich in mir mehr als die zunächst erwarteten multikulturellen Reminiszenzen, mit denen ich gerechnet hatte. Vor dem Hintergrund der spezifisch deutschen Geschichte des 20. Jhdts. erscheinen mir Karl Mays Reiseabenteuer, sowohl die ethnischen Stereotypen der Klassiker wie auch die symbolisch überhöhten und religiös überladenen ‚Märchen‘ seines Spätwerkes als seltsam unangemessen. Gerade auch weil Karl May selbst seine klassischen Reiseerzählungen im Nachhinein symbolisch verstanden wissen wollte, als Vorarbeiten zu seinem eigentlichen Spätwerk, wirken sie verniedlichend und verharmlosend und halten dem tatsächlichen historischen Drama des beginnenden 20. Jhdts. nicht stand.

Dennoch liefert Karl May mit seinem Spätwerk, zu dem auch „Und Friede auf Erden“ gehört, eine bemerkenswerte Perspektive auf das, was wir seit Darwin ‚Evolution‘ nennen, obwohl dieser Begriff selbst gar nicht von Darwin stammt. May hatte immer wieder behauptet, seine Reiseromane seien gar keine Abenteuergeschichten, sondern symbolisch verklausulierte Erzählungen über die Entwicklung des Menschengeschlechts, nämlich im Sinne einer christlich-mystisch gefärbten Evolutionserzählung. Wir hätten es also bei seinen Reiseromanen nicht mit einzelnen Werken, sondern vielmehr mit einem Gesamtwerk zu tun, das von den Niederungen der afrikanischen Wüste bzw. amerikanischen Savanne hinaufsteigt in die wahlweise vorderasiatischen Gebirgsregionen oder Rocky Mountains seines Spätwerkes. Spätestens seit der Wiederentdeckung der „Geographischen Predigten“ (1875) muß man May zugestehen, daß er mit seinen Büchern tatsächlich einen solchen Plan verfolgt hatte, unabhängig davon wie man die literarische Qualität seiner Umsetzung in den Reiseromanen beurteilen mag.

Aber was sein Spätwerk betrifft, hatte schon Arno Schmidt konzediert, daß May mit ihm symbolische Meisterwerke geschaffen habe. Ich möchte hier zum Schluß nur eine kleine, aber wirklich köstliche Szene aus „Ardistan und Dschinnistan“ (1909) wiedergeben, in der May den abendländischen Imperialismus aufs Korn nimmt. Im Sumpfland von Ardistan begegnet der Ich-Erzähler dem Häuptling eines Stammes, einem urweltlichen Riesen, etwa so wie man sich zu Beginn des 20. Jhdts. den Neanderthaler vorgestellt haben mag. Kaum sieht dieser Riese den Fremden, erklärt er ihn zu seinem Eigentum und untersucht sein Gepäck, um sich diverse nützliche Gegenstände einzustecken. Als May, also der Ich-Erzähler, ihn fragt, mit welchem Recht er das mache, erklärt dieser ihm, daß das hier so Gesetz sei. Jeder Fremder, der in sein Land komme, werde automatisch zu seinem Eigentum. Der Häuptling und sein Stamm betreiben also eine Art invertierten Kolonialismus. Sie verlassen zwar nicht ihr Land, um andere Länder und Völker zu unterwerfen. Aber sie warten, bis die anderen Völker in Form von einzelnen Fremden zu ihnen kommen, und diese unterwerfen sie dann. Letztlich also dasselbe mit umgekehrtem Vorzeichen.

Im weiteren Verlauf der Episode gelingt es May, den Häuptling mit Hilfe seines Lassos und einer List gefangen zu nehmen. Als der Häuptling protestiert, entgegnet May, daß er sich nur an die Gesetze seines eigenen Landes halte, so wie auch der Häuptling. Und nach den Gesetzen seines eigenen Landes gehören alle Fremden, in deren Länder er seinen Fuß setze, ihm:
„So paß auf: Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns, und zwar mit Allem, was er besitzt.“
„Wirklich?“ fragte er erstaunt.
„Ja,“ antwortete ich mit besonderer Betonung.
„Da seid ihr schöne Kerle! Pfui Teufel!“
(Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan; vgl. KMW-V.5, S.88 (Greno Verlag))
Sogar das Christentum wird nicht verschont: „Wir sind Christen.“ gesteht May dem Häuptling gegenüber ein.
„Das will ich glauben! Denn wohin die Christen nur kommen, da stehlen sie Alles, Alles weg, was sie nur finden.“
„Woher weißt du das?“
„Das weiß doch die ganze Welt! Erst sind die Christen Bettler gewesen, blutarme Leute, haben gar nichts gehabt und ihren Hunger von den Aehren des Getreides gestillt. Isa Ben Marryam, der Stifter ihrer Religion, hat nicht einmal gehabt, wohin er sein Haupt legte. Und heute gehören ihnen die meisten Länder und die meisten Völker der Erde. Das Alles haben sie sich zusammengeraubt und zusammengestohlen, teils mit List und teils mit Gewalt. Und sie sind hiermit nicht etwa zufrieden, sondern sie rauben und stehlen weiter, und sie werden mit ihren Listen und Gewalttaten nicht eher aufhören, als bis sie Alles besitzen, was es auf Erden gibt! Und zu diesen Räubern, Mördern und Gaunern gehörst auch du?“
„Ja.“
„Pfui Teufel!“
(Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; vgl. KMW-V.5, S.89 (Greno Verlag))
Letztlich muß der Häuptling zugeben, daß seine eigenen Gesetze auch nicht besser sind als die Gesetze in Mays Heimat, also in Europa. Die beiden werden Freunde, und Mays damalige Leser im Kaiser-Wilhelm-Land, das selbst gerade erst in den Kreis der Kolonialmächte aufgestiegen war (inklusive dem Genozid an den Herrero und Nama), hatten hier eine Lektüre zu verdauen, die ihnen sicher noch eine Weile schwer im Magen gelegen haben dürfte.

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