„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 3. Mai 2022

Wahrheit und Subjektivität

Hannah Arendt zufolge geht es in der „Idee der Wahrheit“ „um den Bestand der Welt“. (Vgl. „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972), S.46) Deshalb bedarf es der Zivilcourage, wenn wer auch immer sich für die Wahrheit einsetzt: „Seit eh und je haben die Wahrheitssucher und Wahrheitssager um das Risiko ihrer Unternehmung gewußt: solange sie sich abseits der Welt halten, sind sie nur dem Lachen der Mitbürger preisgegeben, wie Thales dem Lachen der thrakischen Bauernmagd; sollte aber einer versuchen, seine Mitbürger aus den Fesseln des Irrtums und der Illusion zu lösen, so würden sie, ‚wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, auch wirklich töten‘ – wie Plato im letzten Satz des Höhlengleichnisses sagt.“ (Arendt 2013, S.46f.)

Arendt spricht hier vorsichtig von der ‚Idee‘ der Wahrheit, nicht von der Wahrheit selbst, als könnten wir sie unmittelbar vorfinden oder auf sie stoßen, um sie dann couragiert zu bezeugen, bereit, die unangenehmen Folgen auf uns zu nehmen. Sie behält also eine gewisse Distanz zur Wahrheit als solcher. Und das ist gut so! Würde sie von der Wahrheit selbst sprechen, statt nur von ihrer Idee, würde sie sich selbst widersprechen; denn der wichtigste Begriff ihrer politischen Philosophie ist die Pluralität, also die Verschiedenheit der subjektiven Zugänge zur Wirklichkeit. Wenn es nicht um ganz elementare Augenzeugenschaft geht, wie etwa beim Beobachten einer brutalen Gewaltszene, eines Mordes, ist die Wahrheit in einer komplizierten Welt immer zweifelhaft. Vor allem aber ist sie plural.

Das gilt auch in mancherlei Hinsicht (nicht in allen Hinsichten!) von dem Krieg in der Ukraine. So weit eigene Augenzeugenschaft oder die Augenzeugenschaft glaubwürdiger Beobachter vorliegt, können wir von der Brutalität des Putinschen Angriffskrieges wissen, wenn wir das denn wollen. Wer davon nichts wissen will, wird weiterhin glauben, was Putins Propaganda ihn/sie glauben macht.

Trotzdem gibt es Begrifflichkeiten, die eine Wirklichkeit vorgaukeln, die es so nicht gibt; nicht geben kann, wenn meine eigene Erfahrung und die Geschichte dieses Landes, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, irgendeine Bedeutung haben sollen. Zu diesen Begriffen gehört die Aussage, der Angriffskrieg auf die Ukraine sei ‚russisch‘ bzw. ‚die Russen‘ hätten die Ukraine angegriffen, was dann noch einmal durch entsprechende Umfrageergebnisse belegt wird.

Selbst wenn diese Umfrageergebnisse angezweifelt werden – was haben Umfragen in einem Land, in dem der Gebrauch des Wortes ‚Krieg‘ mit mehrjährigen Haftstrafen bedroht wird, für einen Wert? –, wird doch immer wieder gerne darauf verwiesen, daß sie nicht allzu weit von der Wirklichkeit entfernt seien: also vielleicht nicht 82%, sondern vielleicht nur 75%.

Für mich hat die Statistik in diesem Fall überhaupt keinen Wert, um Aussagen wie, ‚die Russen‘ unterstützen diesen Krieg, zu rechtfertigen. Ich bleibe dabei: es ist Putins Angriffskrieg. Es ist Putins Propaganda, die die Leute verdummt, und es ist Putins Gesetz, das diejenigen, die sich nicht dumm machen lassen wollen, mit Haftstrafen belegt. Wir haben es hier mit einem der seltenen Fälle zu tun, in denen ein Verantwortlicher namhaft gemacht werden kann.

Das Wort ‚die Russen‘ ist einfach zu groß, um wahr sein zu können; gleichgültig wie man es benutzt bzw. einschränkt oder nicht einschränkt. Es gibt das Volk nicht, das etwas will, wie z.B. den Angriff auf die Ukraine. Das Volk hat keinen Willen. Es ist bloß eine Idee, so wie die Wahrheit.

Wenn es also in der Idee der Wahrheit, wie Arendt schreibt, um den Bestand der Welt geht, dann nur, wenn wir – wie sie – wissen, daß die Wahrheit immer plural ist.

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