„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 5. Mai 2022

Wahrheit, Vernunft und Politik

In der Öffentlichkeit wird immer gerne unterschiedslos von ‚Fakten‘ geredet; von Tatsachen, denen man uneingeschränkt zustimmen muß und denen man nicht widersprechen und die man nicht leugnen kann. Ich selbst unterscheide zwischen Daten und Fakten. ‚Daten‘ sind, wörtlich genommen, das Gegebene, also das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Diesen Daten kann man tatsächlich nicht widersprechen, weil man dann an seinem eigenen Verstand irre werden müßte.

‚Fakten‘ hingegen sind, wörtlich genommen, das Gemachte, also Tat-Sachen. Sie haben etwas mit unserem Handeln zu tun. Unser Handeln ist aber immer zweifelhaft. Es ist in Situationen eingebunden, die wir nicht unter Kontrolle haben. Dementsprechend gehen aus ihm Folgen hervor, die wir ebenfalls nicht unter Kontrolle haben. Es gibt also tatsächlich so etwas wie alternative Fakten.

Bei Arendt finde ich eine ähnliche Unterscheidung. Ihr zufolge gibt es Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. (Vgl. „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972), S.48) Unter den Vernunftwahrheiten sind nur die mathematischen und die wissenschaftlichen Wahrheiten unbezweifelbar. Die mathematischen Wahrheiten betreffen Gegenstände, die für die Menschen gleichgültig sind; außer für jene sonderbaren Persönlichkeiten, die einen Satz wie: „Die drei Winkel eines Dreiecks sind zwei rechten Winkeln gleich.“ (Arendt 2013/1972, S.47) für anbetungswürdig halten.

Bei den wissenschaftlichen Wahrheiten denkt Arendt vor allem an naturwissenschaftliche Gegenstände. Auch diese sind weitgehend unbezweifelbar. Hier haben wir es mit unseren Sinneswahrnehmungen zu tun; außer in der Quantenphysik und in der Kosmologie natürlich.

Und schließlich gibt es noch die philosophischen Wahrheiten, die uns nun wirklich etwas angehen: in ihnen geht es um die menschliche Existenz, und hier ist nicht die Gewißheit, sondern der Zweifel vorherrschend.

Das alles sind Vernunftwahrheiten. Die Tatsachenwahrheiten sind hingegen politischer Art und betreffen das menschliche Handeln. An diesem ist eben vor allem die Politik interessiert. Deshalb sind sie auch besonders gefährdet; am meisten in Kriegszeiten. Denn die Politik, insbesondere wenn sie nicht mehr von den Medien kontrolliert wird, hat Zugriff auf die politischen Tatsachen. Ohne Kontrolle durch die Medien sind sie beliebig formbar.

Soweit Arendt. – Bleibt mir nur noch zu ergänzen, daß die Medien heutzutage leider weniger denn je mit der seriösen Presse identisch sind. Und auch die seriöse Presse verfolgt leider oft genug ihre eigene Agenda. Es gibt Medien, die parteipolitisch agieren, auch wenn sie sich überparteilich geben. Es gibt Medien, die tatsächlich weitgehend überparteilich sind. Und es gibt Medien, die das vorherrschende Dogma, daß permanentes Wirtschaftswachstum das A und O einer prosperierenden Gesellschaft ist, vertreten und so eine wirksame Klimapolitik behindern. Und was Corona betrifft, war zumindestens mein subjektiver Eindruck, daß auch fast alle seriösen Medien in den letzten Jahren mehr oder weniger in staatspolitischer Verantwortung, also affirmativ unterwegs gewesen waren.

Deshalb muß zu der medialen Kontrolle der Politik durch die freie Presse unverzichtbar immer auch der individuelle Gebrauch des eigenen Verstandes zu der Rezeption dieser Presse hinzukommen. Medienkontrolle geht also in zwei Richtungen: Kontrolle der Politik durch die Medien und Kontrolle der Medien durch den verantwortlichen Staatsbürger.

So kompliziert ist das mit der Wahrheit.

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