„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 2. Mai 2022

Erregungsmedien

In „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972) stoße ich auf eine Bemerkung zur Ohnmacht der Wahrheit, wo Hannah Arendt fragt, ob mit einer politischen Öffentlichkeit, in der die Wahrheit keine Rolle mehr spielt, nicht auch die Welt selbst, in die wir hineingeboren werden und in der wir sterben werden und die es schon vor uns gab und die es auch nach uns noch geben wird, gefährdet ist. (Vgl. Arendt 2013, S.44)

Vieles, was Arendt in den zwei Essays in diesem Buch schreibt, erinnert an den aktuellen Putinschen Angriffskrieg auf die Ukraine. Und auch Arendts Frage nach dem Status einer zur Lüge bereiten und die Lüge akzeptierenden Öffentlichkeit erinnert mich sofort an die Debatten in unserem Land zu einem angemessenen politischen Umgang mit Putins Angriffskrieg. – Nicht etwa, weil ich glaube, daß hier die Lüge über die Wahrheit triumphiert, so wie in manchen anderen Ländern. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß man den Begriff ‚Wahrheit‘ auch mit dem Begriff ‚Medien‘ konfrontieren könnte; wenn man also Arendts Satz entsprechend umformuliert: „Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in den Medien, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere den gebürtlichen und sterblichen Menschen Wirklichkeit vermittelt, als ohnmächtig erweist?“

Denn es ist nicht einfach nur die bewußte Lüge als solche, sondern auch die von den Medien begleitete und nicht selten auch verursachte öffentliche Erregung, die das subjektive Bewußtsein, die Wahrheit zu sagen, infiziert und mit der „gemeinsamen öffentlichen Welt“ die Welt, die es schon immer gab und nach uns noch geben wird, gefährdet. Das ist mir zum ersten Mal in den zwei Jahren der Corona-Pandemie so richtig bewußt geworden. Erregung – und mit ihr die jederzeitige Empörungsbereitschaft (Stéphane Hessel) – torpediert den Versuch einer pragmatischen, an den hygienischen Notwendigkeiten der Pandemie orientierten Politik und führt zu einer gespaltenen Gesellschaft. Mit ‚Spaltung‘ meine ich, daß im öffentlichen Raum nicht mehr diskutiert und argumentiert wird, sondern die jeweiligen Positionen nicht nur nach richtig und falsch, sondern auch nach moralisch und nicht moralisch sortiert werden. – Daran haben sich die Erregungsmedien zumindestens beteiligt; wenn nicht sogar auch Öl ins Feuer gegossen.

Dieses Phänomen findet sich in allen möglichen Streitfragen wieder. Von „me-too“ über Windkraftanlagen bis hin zu den aktuellen Auseinandersetzungen um schwere-Waffen-Lieferungen oder Verhandlungs- und Waffenstillstandslösungen. Da kann jemand nicht mal mehr von Jungs-und-Mädeln sprechen, ohne daß sich darüber tage- und wochenlang erregt wird.

Es kommt ein weiteres Moment hinzu, das mir wichtig ist. Medien sind nicht einfach nur Presse und ‚soziale‘ Netzwerke. Auch die ganze digitale Infrastruktur selbst ist ein Medium; auch diese bzw. ihr digitaler Ausbau wird in höchster Erregung und mit Empörungsausbrüchen hinsichtlich ihres ‚zögerlichen‘ Ausbaus begleitet, ohne daß die Techno-Fans – Fan kommt von Fanatiker; aber vielleicht paßt Techno-Zombies ja besser; oder es stimmt beides – auch nur einen Moment innehalten und an diejenigen denken, die mit der Entwicklung nicht mithalten können: Rentner, die die digitalen Medien, und bewegungseingeschränkte Mitbürger, die die automatischen Bezahlfunktionen, die an die Stelle der Kassiererinnen und Kassierer treten, nicht bedienen können. Und natürlich Leute wie ich, die gerne weiterhin die Wahl hätten, ein Offline-Leben zu führen.

Auch das ist eine Gefahr für die von Arendt angesprochene gemeinsame öffentliche Welt, zu der nur noch die allzeit innovationsbereiten und anpassungswilligen und -fähigen Mitbürger Zugang haben werden. Denn eines ist gewiß: diese Welt, in die wir hineingeboren wurden und die es vor uns schon gab, wird es nach uns nicht mehr geben.

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