„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 28. Mai 2022

Gierkes Melencolia II: Ein Suchbild

Neben der „Melencolia II“ (1989) gibt es von Gierke noch eine „Melencolia I“ (1998). Aus den Jahreszahlen läßt sich schließen, daß die Nummerierungen ‚I‘ und ‚II‘ keine Reihenfolge dieser Ölgemälde angeben. Ich vermute, daß sich diese Nummern auf Dürers in beiden Gemälden im Hintergrund wiedergegebenen Kupferstich „Melencolia I“ (1514) beziehen. Dürers Original wird auf dem Ölgemälde „Melencolia I“ (1998), wo es an der Wand hängt, vollständig abgebildet, wenn man mal davon absieht, daß es teilweise durch die Stuhllehne und durch die linke Schulter der auf dem Stuhl sitzenden, nach hinten über diese Schulter hinweg auf Dürers Kupferstich schauenden Version von Gierkes Melencolia verdeckt wird. Die inhaltliche Vollständigkeit von Dürers Original – soweit es eben sichtbar ist –, motiviert wahrscheinlich die Betitelung, während ihm, ebenfalls im Hintergrund des Ölgemäldes „Melencolia II“ (1989), diesmal als gerahmter Kupferstich in Lebensgröße an der Wand lehnend, einzelne Dinge fehlen. „Melencolia II“ beinhaltet also eine Variation von Dürers Original und kann deshalb auch den Titel nicht eins zu eins übernehmen.

Melencolia II (1989), in: „Weltsprache Kunst“ (2007), S.8

Abgesehen von dem über die Schulter nach hinten auf den Kupferstich gerichteten Blick von Gierkes Melencolia in „Melencolia I“ (1998) gibt es keinerlei inhaltliche Verbindung zwischen Kupferstich und Ölgemälde. Das ist bei Gierkes „Melencolia II“ (1989) anders. Es ist im Grunde wie bei diesen Suchbildern, wo auf dem einen Bild Dinge fehlen, die auf dem anderen Bild vorhanden sind, und man muß herausfinden, welche. Wenn man Gierkes Version von Dürers auf dem Ölgemälde wiedergegebenen Kupferstich (1989) mit Dürers Original (1514) vergleicht, dann ist wie schon angedeutet Gierkes Version lückenhaft. Die auf einer Bank vor einem Haus sitzende Figur auf Dürers Original ist bekleidet und hat Flügel, was sie als Engel kennzeichnet, und Engel sind bekanntermaßen geschlechtslos. Bei Gierke ist dieser Engel aus dem Kupferstich herausgetreten – die Bank vor dem Haus auf dem Kupferstich ist leer –, sitzt jetzt auf einem niedrigen Podest mit dem Rücken zum Kupferstich, ist nackt und ohne Flügel und mit allen weiblichen Attributen ausgestattet. Sie hält in der rechten Hand einen Pinsel, während Dürers Engel einen Zirkel in der Hand hält. Dürers Engel schaut auf einem Horizont, über den ein Komet vorbeizieht, während Gierkes Melencolia nach unten auf einen ihr zu Füßen liegenden Spiegel schaut.

Auf Dürers Original befindet sich eine große Steinkugel, die auf Gierkes Ölgemälde aus dem Kupferstich herausgerollt ist und jetzt im Sitzschatten der Melencolia liegt. Anders als die Steinkugel befindet sich der zu Füßen von Dürers Melencolia schlafende Hund auch in Gierkes Version immer noch auf dem Kupferstich, aber zu Füßen seiner aus dem Kupferstich herausgetretenen Melencolia liegt jetzt kein Hund mehr, sondern der Spiegel.

Sonst ist auf Gierkes im Rücken von Melencolia an der Wand lehnenden Version von Dürers Kupferstich alles wie auf dem Original. Die Veränderungen betreffen vor allem die Figur (Engel/Frau), den Pinsel (Zirkel), die Steinkugel und den Spiegel.

Diese Veränderungen deuten meiner Ansicht nach auf eine veränderte kulturelle Verortung des Menschen im Kosmos hin. Es gibt keine Spannung mehr zwischen Erkenntnisfortschritt und Transzendenz, wie sie in Dürers Kupferstich als Melancholie des an den Grenzen der Erkenntnis sich abmühenden Menschen – in der Gestalt eines gefallenen Engels (?) – zum Ausdruck kommt. Gierkes Melancholie speist sich aus anderen Quellen. Sein Mensch, in weiblicher Gestalt, sucht seinen Ort außerhalb einer mit männlich konnotierten Requisiten ausgestatteten und entsprechend vereinnahmten Welt. Möglicherweise deutet der Pinsel in ihrer Hand darauf hin, daß sie Dürers Kupferstich, auf dem der Zirkel vielleicht für die Vermessung der Welt steht, neu malen will?

Gierkes Melencolia scheint mit einer Biologie zu hadern, die ihre Menschlichkeit einzuschränken droht. Ihr Blick in den Spiegel sucht nicht sich selbst, sondern ein anderes ihrer selbst. Vielleicht ist ja das Meer auf Dürers Kupferstich in Gierkes Ölgemälde zum Spiegel geworden. Dann schaut auch seine Melencolia hinaus auf einen Horizont, so wie Dürers Engel, und sucht dort den Kometen.

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