„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 20. April 2022

„Im Namen des Volkes“

Arendt unterscheidet zwischen Macht und Gewalt, indem sie die Macht auf den ‚Willen‘ des Volkes zurückführt und die Gewalt nicht. (Vgl. Hannah Arendt, „Macht und Gewalt“ (1969/70), S.42ff.) Auf einer einzigen Seite variiert sie diesen Zusammenhang in sieben unterschiedlichen Formulierungen, die ihren letztgültigen Ausdruck in Zahlenverhältnissen finden: „Macht des Volkes“, „Unterstützung des Volkes“, „ursprünglicher Konsens“, „die lebendige Macht des Volkes“, „Volkswillen“, „Majorität“, und die Macht „hängt von der Zahl derer ab“, die die jeweilige Regierung, unabhängig von der Regierungsform (Monarchie, Oligarchie, Aristokratie, Demokratie) unterstützen. (Vgl. Arendt 1969/70, S.42)

Abgesehen von der ernüchternden Aussage zum statistischen Charakter des Volkswillens – die jeweilige (immer zeitlich befristete) Majorität – verwundert mich diese Mystifizierung des Volksbegriffs, an der sich Arendt an dieser Stelle beteiligt, ohne dabei die Minderheiten zu berücksichtigen, die ja auch irgendwie zum Volk gehören. Sie werden von Arendt nur als diejenigen angeführt, die von der „Mehrheit“ – also dem „Volk“, dessen Macht bzw. ‚Wille‘ „immer von Zahlen abhängt“ – unterdrückt werden. (Vgl. Arendt 1969/70, S.43) Dieser Volksbegriff paßt nicht zu der Tatsache, daß „die Menschen nur im Plural existieren“. (Vgl. Arendt 1969/70, S.96)

Pluralität hat nichts mit Statistik zu tun, sondern bildet ein konstitutives Merkmal unserer Individualität. Auf gesellschaftlicher Ebene handelt es sich bei dieser Pluralität nach Arendts eigener Definition um den Raum, in dem jedes Individuum seine eigene Wahrheit leben und sich mit anderen Individuen zu gemeinsamem Handeln zusammenfinden kann.

Etymologisch kann man das ‚Volk‘ darauf zurückführen, daß es die ‚Vielen‘ sind, die sich zu einer irreduziblen ‚Fülle‘ zusammenfinden. Nichts anderes aber meint auch Arendt mit dem Begriff der Pluralität. Das hat nichts mit Zahlenverhältnissen und Meinungsumfragen zu tun. Denn darum handelt es sich bei dem „Volkswillen“ als Fundament der (politischen) Machausübung: um Meinung: Die Gewalt unterscheidet sich von der politisch legitimierten Macht dadurch, daß sie „nicht auf der Meinung der Beherrschten, bzw. auf der Zahl derer, die eine bestimmte Meinung teilen,“ beruht. (Vgl. Arendt 1969/70, S.54) Um nichts anderes handelt es sich bei dem gerade jetzt in Kriegszeiten wieder so beliebten Volksmystifizismus: um Meinungsmehrheit.

Der Volksbegriff beinhaltet eine unvermeidbare Ungenauigkeit: Als souveräner Wille (volonté générale) fallen die Minderheiten, die immer etwas anderes wollen (oder meinen) als die Mehrheit, aus ihm heraus. Eine Demokratie, als Herrschaft des Volkes, ist deshalb auch immer als Herrschaft über die Minderheiten definiert. Diese politische Spaltung läßt sich nur dadurch entschärfen, daß in die Konstitution einer Demokratie unverfügbare Minderheitenrechte, als Minderheitenschutz, explizit eingebaut werden.

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