„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. April 2022

Solidarische Kollektive und Heterosexualität

Ich lese gerade „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“ (5/2021) von Eva von Redecker. Ich habe auch vor, zu diesem Buch, das mir wirklich gut gefällt, nochmal eigens Stellung zu nehmen. Doch eine Textstelle läßt mir keine Ruhe, und noch bevor ich mit meiner Lektüre zu einem Ende gekommen bin, möchte ich mich gerne jetzt schon dazu äußern.

Es geht in dieser Textstelle um die Femizide in der mexikanischen Region Ciudad Juárez. Von Redecker führt die „mörderische Gewalt“ auf eine „zentrale() Institution“ zurück: auf die „heterosexuellen Paarbeziehungen“. (Vgl. Von Redecker 2020, S.196) Ich bin mir des Kontextes, in dem diese Aussage steht, sehr wohl bewußt und bin auch bereit, zuzugestehen, daß von Redeckers Aussage über heterosexuelle Paarbeziehungen in diesem eingeschränkten Sinne zu verstehen ist. Trotzdem bin ich es inzwischen gewöhnt, daß aus einer dekonstruktivistischen Perspektive ‚Heterosexualität‘ immer schon mit ‚Patriarchat‘ gleichgesetzt wird und als allgemeines Übel betrachtet wird, das, da hier Differenzierungen oft fehlen, wie das Patriarchat abgeschafft gehört. Judith Butler ist da übrigens differenzierter als manch andere ihrer Nachfolgerinnen. Sie weist ausdrücklich darauf hin, daß Heterosexualität eine legitime sexuelle Orientierung sei.

So richtig alle diese (dekonstruktivistischen) Analysen und Kritiken des „possessiven patriarchalen Geschlechtsverhältnis(ses)“ sind (vgl. von Redecker 2020, S.196), führt die undifferenzierte Reduktion der heterosexuellen Paarbeziehungen auf eine institutionelle Struktur dazu, daß das heterosexuelle „Du“, wie ich als männlicher und heterosexueller Leser von von Redecker direkt angesprochen werde, nicht mehr gleich Ich ist (meine Formel, an der ich mich orientiere: Ich = Du), sondern ein Vergewaltiger: „‚Der Vergewaltiger bist Du.‘ – auch die Frau, die sich nicht vom Begehren bewegen lässt, andere Frauen und sich selbst lebendig zu wollen.“ (Von Redecker 2020, S.201)

Wie sollen wir Heterosexuellen uns zu einem lebendigen Bedürfnis bekennen können, wenn ‚Ich‘ nicht mehr gleich ‚Du‘ sein kann, weil ich immer schon ein Vergewaltiger bin? – Ich gebe von Redeckers Argumentation bewußt verkürzt wieder, denn ich glaube nicht, daß sie das so meint. Es geht darum, die/den anderen lebendig zu wollen. Aber heterosexuelle Paare wollen genau das anscheinend nicht. Sie bilden nur die institutionellen Strukturen des Patriarchats ab.

Folgender Satz, in dem von Redecker sich für die individuelle Differenz in unserer Art, Mensch zu sein, einsetzt (und da bin ich wieder ganz bei ihr), legt das Problem offen: „Differenz wird überhaupt nur zum Problem, wenn man sie von der Warte der Homogenität aus betrachtet. Aber die Frage ist nicht, welche Einheit wir gemeinsam bilden, sondern welche Welt wir gemeinsam bauen können.“ (Von Redecker 2020, S.212)

Wenn es also um Differenz geht, und nicht um Homogenität, dann darf Heterosexualität nicht zum „Auswurf“ hochstilisiert werden. Denn etwas zum „Auswurf“ zu machen, ist etwas, so von Redecker, das das „solidarische Kollektiv“ tunlichst vermeiden sollte. (Vgl. von Redecker 2020, S.211f.) Und wenn von Redecker davon spricht, daß die „Vielgestaltigen ins richtige Verhältnis zueinander“ gesetzt werden müssen (vgl. von Redecker 2020, S.212), dann kann diese Verhältnisbestimmung nur auf der Basis von Ich = Du stattfinden! Denn nur dann sind wir „lebendig und frei“ und „gemeinsam“. (Vgl. von Redecker 2020, S.212)

Das solidarische Kollektiv muß also heterosexuelle Paarbeziehungen zulassen können, denn es hat, wie von Redecker schreibt, einen „anarchistischen Horizont“: „Der anarchistische Horizont nimmt konkrete Beziehungen in den Blick“ – und sie fügt hinzu: „er vermengt Solidarität nicht mit Vertrautheit“. (Vgl. von Redecker 2020, S.214) Aber aus Sorge, Solidarität mit Vertrautheit zu vermengen, wenn von Redecker Solidarität mit den Opfern der Femizide einfordert und dabei heterosexuelle Paarbeziehungen pauschal auf institutionelle Strukturen reduziert, verweigert sie zugleich, wenn sie intimste Beziehungspraktiken verunglimpft, den Respekt für die auch für heterosexuelle Paarbeziehungen geltende Vertrautheit, die es verbietet, sie einfach mit Institutionalität gleichzusetzen.

In folgendem Satz erkenne ich mich wieder: „Gegenseitige Hilfe schafft Beziehungen, sie setzt sie nicht voraus.“ (Von Redecker 2020, S.214) – Von Redecker setzt mit dem Begriff des Anarchismus dem solidarischen Kollektiv einen offenen, weiten Horizont, in dem jede Begegnung zwischen Menschen voraussetzungslos ist. Die Basis dafür bildet nach meinem Dafürhalten die Formel Ich = Du. Aus dieser Voraussetzungslosigkeit heterosexuelle Paarbeziehungen ausschließen zu wollen, kommt einem performativen Widerspruch gleich.

Ich selbst bin da übrigens keineswegs voraussetzungslos und in gewisser Weise beschränkt. Meiner Ansicht nach sind beispielsweise pädophile Paarbeziehungen problematisch. Der Hintergrund ist meine pädagogische Praxiserfahrung in reformpädagogischen Einrichtungen wie etwa der Odenwaldschule, in denen ein pädagogischer ‚Eros‘ auf mißbräuchliche Weise umgesetzt wurde. Ich verurteile nicht etwa das zugrundeliegende Bedürfnis, sondern ich kann mir einfach keine erotischen Praktiken vorstellen, in denen zwischen Erwachsenen und Kindern das Ich = Du respektiert würde.

Aber: Bedürfnisse sind grundsätzlich immer etwas, das respektiert werden muß. Sie sind eine Realität. Sie zu leugnen, kommt einer Realitätsverleugnung gleich. Unsere Aufgabe ist es – und darin schließe ich, diesmal wirklich voraussetzungslos, uns alle ein –, mit unseren Bedürfnissen so umzugehen, daß niemand dadurch zu schaden kommt.

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