„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. April 2022

Zum Mann gereift

Putins Angriffskrieg hat Begriffe wieder salonfähig werden lassen, die für Intellektuelle wie mich längst in der sprichwörtlichen Mottenkiste der Geschichte verstaut gewesen waren. Man kann wieder von Helden sprechen, von Tapferkeit im Krieg, vom Volk und von Vaterlandsliebe. Am 23. März war in der Talkshow von Markus Lanz die Frau von Vitali Klitschko, Natalia Klitschko, zu Gast. Ihr Mann ist bekanntermaßen Bürgermeister von Kiew. Auf eine Bemerkung von Lanz zu einigen Bildern von Vitali Klitschko vor zerstörten Häusern, ihr Mann habe sich seit Kriegsbeginn sehr verändert, antwortete Natalia Klitschko, er sei jetzt zu einem Mann geworden. Sie wiederholte das mehrmals. Das war ihr wohl wichtig. Außerdem sprach sie von ihrem Stolz auf das ukrainische Volk, und auch vom Stolz, dazuzugehören. Ein Teil dieses Volkes sein zu dürfen.

Es ist nicht nur der Umstand, daß jetzt, wo in Europa ein Krieg ausgebrochen ist, der Volksbegriff wieder zu einer mythischen Größe hochstilisiert wird, der mich nachdenklich macht. Auch die Männer müssen jetzt wieder Männer sein. Natalia Klitschko war schon vor dem Kriegsausbruch mit ihrem Mann verheiratet gewesen, und sie hat auch gemeinsam mit ihm Kinder. War ihr Mann also, der Vater ihrer Kinder, zu dieser Zeit kein Mann gewesen? Warum ist er erst durch den Krieg zum Mann geworden?

Ich selbst hatte in diesem Blog schon einige Worte zum Volksbegriff gepostet, und ich hatte dabei das ‚Volk‘ als politische und identitäre Größe verabschiedet. Offensichtlich war das voreilig gewesen. Corine Pelluchon weist in „Das Zeitalter des Lebendigen“ (2021) darauf hin, daß das Volk „kein einheitliches Ganzes mehr (ist), das es zu repräsentieren gälte wie im bonapartistischen Modell der Repräsentation/Inkarnation“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.184) – Mit dem Volksbegriff verabschiedet Pelluchon auch die Vorstellung von einem „allgemeinen Willen“, wie er von Rousseau geprägt wurde, und plädiert mit Hannah Arendt dafür, ihn durch den Begriff der „Pluralität“ zu ersetzen.

Die Zeiten haben sich geändert. Immer wieder werden wir durch die Medien und die Politik darüber belehrt. Dabei wird manches aus den Sedimenten unseres Unterbewußtseins hochgespült, was dort bislang ruhte.

Ich habe Ende der 1970er Jahre den Wehrdienst verweigert. Inzwischen kann ich mir vorstellen, wie Vitali Klitschko zu handeln, wäre ich Ukrainer. Aber ich würde nicht so sprechen wie er, voller Vorwürfe gegen Europa und dieses Deutschland, in dem in den letzten zwei Jahrzehnten eine Politik Putin gegenüber betrieben wurde, die man nur als verfehlt und verblendet bezeichnen kann, und wo man nun im Einvernehmen mit den Alliierten versucht, einen dritten Weltkrieg zu vermeiden. Vor allem aber würde ich nicht wollen, daß meine Frau von mir sagt, ich sei durch meine Kampfbereitschaft zum Mann geworden. Ich würde mich fragen, wen meine Frau geliebt hat, bevor der Krieg ausbrach. Ich würde mich fragen, ob ich der Mann sein will, auf den sie jetzt stolz ist.

Es gibt gute Gründe, für das Land zu kämpfen, in dem man aufgewachsen ist. Aber daß ich für dieses Land kämpfen würde, um dadurch zum Mann zu werden, ist absurd. Denn dadurch hätte ich vollzogen, was ich durch meinen Einsatz hatte bekämpfen wollen.

Ich verstehe unter diesem ‚Land‘ nicht irgendeinen Staat oder ein bestimmtes Volk. Ich verstehe unter dem Land ein Stück Erde, auf dem ich mit meinen Füßen stehe. Auf ihm wächst, was ich zum Leben brauche, und es bezaubert mich mit seiner Schönheit. Das Land ist die Landschaft mit ihrem offenen Horizont und mit ihren Jahreszeiten. Das ist mein Land. Es gehört mir nicht. Es gehört niemandem. Dieses Land würde ich, wenn ich müßte, gegen alle verteidigen, die einen Besitzanspruch darauf erheben. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, so zu handeln. Ich stelle mir vor, daß ich es nicht für mich verteidigen würde, sondern für die Menschen und ihre Zukunft.

Wenn ich müßte. Wenn ich den Mut dazu hätte. Vielleicht.

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