„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 23. August 2022

Eine Welt ohne Olivettis – Ein Nachruf

Mein Offline-Projekt beschränkt sich momentan darauf, auf ein Smartphone zu verzichten und keine Online-Geschäfte zu tätigen. Schon das erweist sich zunehmend als schwierig genug. Ohne diverse Smartphone-Apps, von der Corona-Überwachung über die Buchung von Mietwagen bis zu Bahnreisen, ist man von vielen gesellschaftlichen und Konsumangeboten ausgeschlossen.

Für die Verwaltung meines Bankkontos benutze ich den Online-Zugang; aber nicht um Geschäfte oder Einkäufe zu machen. Ansonsten brauche ich das Internet als Recherchemedium und Publikationsersatz und den PC offline als Schreibmaschine.

Gerade lese ich bei Günter Grass eine Liebeserklärung an seine Schreibmaschine, eine „Olivetti lettera“. PC-Schreibangeboten verweigerte er sich. Von seinen Olivetti lettera besaß er drei, an verschiedenen Standorten in Portugal, Dänemark und Deutschland:

„Alle drei sind mir mechanische Musen. Andere habe ich nicht. In dem Gedichtband ‚Fundsachen für Nichtleser‘, der Ende des letzten Jahrhunderts erschien und in Aquadichten mehr als meine Siebensachen aufzählt, habe ich ihnen einen Vierzeiler gewidmet. Nie ist die portugiesische auf die dänische oder die Behlendorfer Olivetti auf die beiden ausländischen eifersüchtig. Und wie sie mich dreistimmig lieben, bleibe ich ihnen, nur ihnen zugetan.“ (Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2006, S.451)

Das Gedicht in den „Fundsachen für Nichtleser“ (1997, S.43) lautet:

MEINE ALTE OLIVETTI
ist Zeuge, wie fleißig ich lüge
und von Fassung zu Fassung
der Wahrheit
um einen Tippfehler näher bin.

Es bedarf des Internets und seiner Foren, um das Lügen massentauglich zu machen. Die Schreibmaschine hingegen lädt dazu ein, individuell so lange an Texten zu arbeiten, bis eine Fassung bis in die Tippfehler hinein der Wahrheit ähnlicher ist als alle anderen. Und die offene Weite jenseits seines geöffneten Fensters reicht dem Autor Grass, um sich bemerkbar zu machen:

„Stimmt, sie hat ihre Macken. Oft klemmt das Farbband. Doch bin ich mir sicher: sie altert, aber veraltet nicht. Ihr Klappern meldet bei offenem Fenster weithin, daß wir leben, wir beide immer noch leben: hört! Nicht enden will unser Zwiegespräch. Ihr zu beichten, bin ich katholisch genug.“ (Grass 2006, S.451)

Nun – auch Grass lebt nicht mehr. Als veraltet müssen sich diejenigen empfinden, denen es geht wie ihm. Ich bin mir sicher, daß eine Welt ohne Olivettis nicht mehr die seine ist. Jedenfalls ist sie nicht mehr meine. 

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