„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. August 2022

Das Absurde und der Sinn

Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg 1942/48/65 – 2000

Ich hatte immer mal wieder den Versuch gemacht, das eine und andere Buch von Camus zu lesen, konnte aber, obwohl ich selbst mit einem aufgeklärten, humanistisch orientierten Nihilismus sympathisiere, mit seinen Texten nichts anfangen. Jetzt wende ich mich erstmals dem „Mythos des Sysiphos“ (28/2022) zu. Auch hier hatte ich wieder Probleme mit seinem Schreibstil, mit seinen Auslassungen und thematischen Sprüngen. Aber insgesamt erwies sich das Buch für mich als lesbar. Umso mehr aber auch als enttäuschend.

Camus gibt sich bescheiden. Er leitet das Absurde, um das es in seinem Buch geht, aus alltäglichen Erfahrungen mit Krankheit und Tod ab; aus der Frage, die sich uns allen stellt: ob es sich lohnt zu leben. Immer wieder versichert Camus, daß er über die einfachsten Dinge schreibt, die jeder weiß: „Noch einmal: dies ist wieder und wieder gesagt worden ... Auch das tagtägliche Gespräch lebt von ihnen. Es geht nicht darum, sie aufs Neue zu erfinden.“ (Camus 28/2022, S.28)

Allerdings haben bisher die wenigsten aus diesen alltäglichen Erfahrungen die letzte Konsequenz gezogen. Dazu bedarf es Camus zufolge einer besonderen Rigorosität; des Mutes zum Absurden: „Hier ist nur rigoroses, das heißt logisches Denken am Platze. Das ist nicht leicht. Logisch zu sein ist immer bequem. Nahezu unmöglich ist es aber, logisch bis ans Ende zu sein.“ (Camus 28/2022, S.21)

Den Theologen wirft Camus vor, daß sie das Absurde zu einer Eigenschaft Gottes gemacht haben und es so, durch Vergöttlichung, aus der Welt geschafft haben. Sie haben das Absurde mit der Formel „Credo, qia absurdum“ – frei übersetzt: ich glaube, weil alles absurd ist – seiner Absurdität beraubt. (Vgl. Camus 28/2022, S.46ff.) Diese Verlagerung der Absurdität unseres Lebens auf Gott hat eine Entlastungsfunktion, die es uns ermöglicht, das Absurde auszuhalten, indem wir es in eine Irrationalität jenseits der Grenzen unseres Verstandes auflösen.

Wenn wir es mit unserem begrenzten Verstand angesichts des Absurden nicht mehr aushalten, machen wir einen „Sprung“ in den Glauben; so wie Kierkegaard. (Vgl. Camus 28/2022, S.46, 48, 50f., 55, 59, 61, 131) Überall wird so gesprungen, auch in den Wissenschaften. wenn sie leugnen, daß die Naturgesetze nur „bis zu einer bestimmten Grenze Gültigkeit haben“. (Vgl. Camus 28/2022, S.49) Sie wollen es nicht zulassen, daß an den Grenzen der Gültigkeit von Naturgesetzen das Absurde aufleuchten könnte: „Man kann auf vielerlei Art springen, wesentlich bleibt immer, dass man springt. Diese erlösenden Verneinungen, diese letzten Widersprüche, die das noch nicht übersprungene Hindernis leugnen, können ... ebenso gut einer gewissen religiösen Inspiration wie einer rationalen Ordnung entspringen. Sie erheben immer Anspruch auf das Ewige, und nur insofern machen sie den Sprung.“ (Camus 28/2022, S.55)

Für Camus ist also die Erkenntnis des Absurden ein Prüfstein, an dem sich erweist, ob wir uns in die Begrenztheit unseres Verstandes bescheiden, oder ob wir bereit sind, ihn um unserer Bequemlichkeit willen zu demütigen, in Form einer Rationalisierung (Naturgesetze) oder in Form einer Irrationalisierung (Gott). Beides ist derselbe Sprung aus unserem Verstand in den Glauben. Allerdings will sich ja Camus selbst nicht in seinen Verstand bescheiden. Denn er fordert von seinen Leserinnen und Lesern, die letzte Konsequenz zu ziehen: die Konsequenz des absurden Menschen. Wenn man genauer hinsieht, springt auch er.

Der absurde Mensch ist ein seltsames Konstrukt. Einerseits fordert Camus, daß wir uns nicht mit dem Absurden abfinden, sondern gegen das Absurde kämpfen, ohne Trost und Hoffnung auf einen Sieg. (Vgl. Camus 28/2022, S.44, 48, 50) Zum anderen aber ist der absurde Mensch gerade derjenige, der sich mit dem Absurden abgefunden hat, indem er es zu seinem Lebensinhalt macht. Der absurde Mensch begeht keinen Selbstmord. Er führt vielmehr ein bedeutendes, ruhmreiches Leben. „Größe“, „Stolz“, „Ruhm“, das sind die Prädikate, mit denen Camus seinen Helden, den absurden Menschen ausstattet. (Camus 28/2022, S.68, 94, 102, 103f., 123f., 126, 128f., 152)

Das Absurde, so Camus, ermögliche es uns, aus uns selbst heraus, aus eigener Kraft, zu leben. (Camus 28/2022, S.67) Ab jetzt stimmen die Begriffe nicht mehr. Das ist schlimmer als ein leerer Begriff. Begriffe, die sich widersprechen, sind keine Begriffe. Sie sind nichts. Wir haben es beim Tod nicht mit einer Anschauung zu tun – es sei denn mit der indirekten „Erfahrung des Todes der anderen“, wie Camus schreibt (vgl.Camus 28/2022, S.158). Wir leiten also den Tod und die daraus zu ziehende letzte Konsequenz aus einem leeren Begriff ab.

Aber ein Begriff, der sich selbst widerspricht, wie das Absurde und sein Mensch, ist noch schlimmer. Angeblich ist das Absurde das Sinnlose. Aber es erfüllt alle Voraussetzungen eines Sinns. Statt am Absurden festzuhalten, durch eine Lebensführung, die dem Kampf gegen das Absurde geweiht ist – was die Aufgabe des absurden Menschen wäre –, verleiht gerade dieser Kampf seinem Leben Sinn: „Diese Auflehnung gibt dem Leben seinen Wert.“ (Camus 28/2022, S.68)

So weit so schlecht. Als wäre das aber noch nicht genug begrifflicher Nonsense (also absurd?), haben wir es bei dieser ‚wertvollen‘ Lebensführung letztlich bloß mit einer Spiegelfechterei zu tun. Denn tatsächlich gibt es gar keine Auflehnung gegen das Absurde. Für den absurden Menschen ist das Absurde das Glück, nämlich das „metaphysische Glück“, das darin besteht, mit seiner Lebensführung „die Absurdität der Welt () stützen“ zu dürfen. (Vgl. Camus 28/2022, S.113)

Letztlich kämpft der absurde Mensch gar nicht gegen das Absurde, sondern gegen die Hoffnung, weil sie seine Freiheit einschränkt: „Das Absurde macht zwar alle meine Chancen einer ewigen Freiheit zunichte, doch gibt es mir eine Handlungsfreiheit wieder und feiert sie. Dieser Verlust an Hoffnung und Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Beweglichkeit.“ (Camus 28/2022, S.70) – Das ist die Vollendung der inneren Widersprüchlichkeit eines leeren Begriffs. Das Absurde, dem Camus sein Buch gewidmet hat, das Glück des Sisyphos, müssen wir an anderer Stelle suchen als dort, wo der Autor es gefunden zu haben meint. Es liegt in der begrifflichen Ausführung seines Themas.

Das alles erinnert mich an den Teufelspakt in Goethes „Faust“. Faust (absurder Mensch) verkauft Mephisto (das Absurde) seine Seele (Hoffnung). Sogar das, worum es dem absurden Menschen in diesem Pakt geht, entspricht dem Goetheschen Drama: er erhält dafür das größtmögliche Quantum an Wunscherfüllung. Diese Wunscherfüllung hat die geringstmögliche Qualität; nämlich keine. Die „Qualität der Erfahrungen“, hält Camus fest, wird durch „Quantität“ ersetzt. (Camus 28/2022, S.73) – Niemals sagt der absurde Mensch, „verweile doch du bist so schön“ (Goethe/Faust).

Wie Goethes Faust hält Camus das für wünschenswert. Er glaubt, dieser Teufelspakt sei ein einträgliches Geschäft. Er meint, sich nicht an einzelne Erfahrungen zu binden, sondern so viel wie möglich zu anderen Erfahrungen wechseln zu können, sei gleichbedeutend mit Freiheit. Deshalb bildet Camus zufolge Don Juan ein Idealbild des absurden Menschen, da er von einer Frau zur anderen wechselt und jeder nur so lange treu bleibt, wie er sie gerade ‚liebt‘. (Vgl. Camus 28/2022, S.86ff.) Und diese Liebe hält Camus für so echt, wie nur irgendeine Liebe sein kann. Bis sich Don Juan in die nächste verliebt.

Mir aber scheint dieser gefeierte absurde Mensch, dem es nur darauf ankommt, nicht „so gut wie möglich, sondern so viel wie möglich zu leben“ (vgl. Camus 28/2022, S.74), zu springen, nicht anders als der Theologe und der Naturwissenschaftler. Er springt in den Kapitalismus und wird zum Konsumenten, der ewig unbefriedigt dem nächsten Kaufakt hinterherhechelt.

Die aus meiner Sicht entscheidende Schwachstelle in Camus’ Argumentation betrifft die durchgehende Mißachtung menschlicher Grundbedürfnisse. Ich halte Sinn und Bedeutung bzw. „Hoffnung und Zukunft“ für solche Grundbedürfnisse, die Camus seinem Absurden bedenkenlos zu opfern bereit ist, zugunsten einer Konsequenz, für die er letztlich nur den Heroismus des absurden Menschen ins Feld führen kann und deren Ergebnis eine Wirtschaftsform ist.

Sicher – wir kämpfen ein Leben lang gegen das Absurde; aber nicht als absurde Menschen. Und auch nicht im luftleeren Raum. Solange der Tod nicht ist, atmen wir.

Daran ist gewiß nichts groß oder ruhmreich. Aber es ist sinnvoll.

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