„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 13. August 2022

Der Wille zum Schönen als Tautologie

Michael Musalek, Der Wille zum Schönen (2Bde.), Berlin 2017

Als Geschenk gerieten mir zwei Bände von Michael Musalek in die Hände: „Der Wille zum Schönen – Als alles bestimmende Naturkraft“ (2017) und „Der Wille zum Schönen – Als Kulturgeschehen auf dem Weg zur Kosmopoesie“ (2017). Neugierig machte mich im Inhaltsverzeichnis das erste Kapitel zur Begriffsbestimmung des Willens. Es vermittelte mir den Eindruck, daß ein Autor, der es für notwendig hält, den Begriff des Willens allererst bestimmen zu müssen, anstatt sich auf den Sprachgebrauch zu verlassen und einfach drauf los zu schreiben, es wert ist, daß man sich näher mit ihm befaßt.

Letztlich beschränkt sich dann aber die Begriffsbestimmung auf eine weitschweifige Begriffscollage. Der Autor verfügt über ein breites philosophiehistorisches Wissen, auf das er ausgiebig zurückgreift, um die verschiedenen Schönheitsvorstellungen und Willensbegriffe von den Vorsokratikern, Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche bis Heidegger detailliert und gründlich zu erörtern. Aber zu einer wirklichen Analyse des Willensbegriffs, also zu einer Aufdeckung der notwendigen Bedingungen für etwas, das wir ‚Wille‘ nennen können, dringt Musalek nicht vor. Er begnügt sich damit, die verschiedenen Willensbegriffe, wie er sie in der philosophischen Tradition vorfindet, zu einer umfänglichen Begriffscollage zu arrangieren, wie sie ihm für ein therapeutisches Konzept zur Verschönerung der Welt als tauglich erscheint. So entgeht es ihm, daß – trotz aller behaupteten Differenzierung – aufgrund der Gleichsetzung des Schönen mit dem Lustempfinden der „Wille zum Schönen“ nur eine Tautologie ist: der Wille zum Schönen ist der Wille zur Lust. Und was ist Lust? Natürlich Wille.

Da wundert es nicht, wenn er mit dem Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes durcheinanderkommt und einleitend seine Begriffsbestimmung des Schönen als erstes Kapitel vorstellt, während das tatsächliche erste Kapitel, die Begriffsbestimmung des Willen, jetzt das zweite sein soll. (Vgl. Musalek 2017, Bd.I., S.24f.) Auch im zweiten Band hat Musalek Zuordnungsschwierigkeiten mit diesem Kapitel: jetzt soll die Begriffsbestimmung des Willens als Naturkraft nicht mehr im ersten Band stattgefunden haben, sondern noch ausstehen und im zweiten Band eingelöst werden. (Vgl. Musalek 2017, Bd.II, S.40)

Je mehr ich mich in die beiden Bände eingelesen hatte, um so weniger gefiel mir Musaleks Bestimmung des Willens als Naturkraft. Letztlich läuft es darauf hinaus, daß der Wille nicht mein Wille ist, sondern mir als gleichermaßen attraktive wie appetitive Kraft einerseits äußerlich anziehend gegenübergestellt, andererseits innerlich antreibend untergeschoben wird: „Wenn nun im Folgenden vom Willen zum Schönen als Naturkraft die Rede sein wird, dann eben in dem Sinne einer Gegebenheit in der Natur, einer Naturgegebenheit, die wir als eine von Natur aus gegebene Kraft wahrnehmen und damit zu unserer Gegebenheit machen. Der Wille zum Schönen wird als ein Objekt aufgefasst, das wir unmittelbar als etwas uns Gegenüberstehendes wahrnehmen und erfahren können und das auf uns wirkt, indem es in uns wirkt.“ (Musalek 2017, B.I, S.104f.)

Diese Begriffsbestimmung des Willens als Naturkraft wirft viele Fragen auf, auf die Musalek auch detailliert und umfänglich eingeht; aber niemals analysierend, sondern immer nur die Begrifflichkeiten arrangierend und collagierend. Dabei werden die zahlreichen begrifflichen Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten zu perspektivischen Zweideutigkeiten umdefiniert. (Vgl. Musalek 2017, Bd.I, S.38, 103, 107f., 118, 147 u.ö.)

Das heißt nicht, daß gerade Bewußtseinsbegriffe nicht sowieso immer eine fundamentale Doppelaspektivität beinhalten. Allerdings bedarf auch diese Doppelaspektivität, wenn man die Begriffe als Begriffe ernst nehmen will, selbst einer eigenen begrifflichen Analyse des Bewußtseins und seiner spezifischen Form als Grenze, wie wir sie von Plessner kennen. Eine solche Analyse fehlt aber bei Musalek. Dabei hätte Musalek Zugriff auf Plessners Herleitung der Doppelaspektivität gehabt, denn er zitiert aus dem betreffenden Buch das von Plessner formulierte „anthropologische() Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit“ (vgl. Musalek 2017, Bd.II, S.131f.), aus dem die Bestimmung des Bewußtseins als Grenze, als Exzentrizität, hergeleitet werden kann. Aber genau diese entscheidende Stelle wird von Musalek nicht weiter erläutert. Er begnügt sich damit, sie seiner Begriffscollage ohne weiteren Kommentar einzuverleiben, und erweckt so den Eindruck, als meinte Plessner mit der „natürlichen Künstlichkeit“ nicht eine Künstlichkeit, sondern eine Naturkraft wie sie angeblich der Wille zum Schönen ist.

Plessners Formulierung paßt – entgegen Plessners Intention – in Musaleks Konzept einer Verschmelzung von „Naturwille“ und „Kulturwille“ auf der Basis der Natur selbst. Es gibt Musalek zufolge keinen Bruch zwischen Natur und Kultur, sondern ein Kontinuum, so daß, schlußfolgert er, Natur immer auch künstlich und Künstlichkeit immer auch natürlich sei. (Vgl. Musalek 2017, Bd.I, S.90ff.)

Dieses Kontinuitätspotulat nimmt den beiden Bänden, also der Zweiteilung des Themas – der Wille als Naturkraft (Bd.I) und als Kulturgeschehen (Bd.II) –, ihre sachliche Begründung. Zunächst soll das „Kulturgeschehen“ etwas sein, das sich mit Hilfe des Menschen „selbst autoaktiv“ – was immer an dieser Stelle ‚autoaktiv‘ meinen soll – entwirft und produziert. (Vgl. Musalek 2017, Bd.II, S.57) Mit dieser Aussage ist schon mal die eigenständige Leistung des Künstlersubjekts auf ein anonymes Geschehen reduziert. Was genau ist aber nun dieses anonym Kulturelle? Musalek macht es an der Differenz zwischen dem „Naturschönen“ und dem „Werkschönen“ fest. Das Werkschöne, so Musalek, sei keine Naturleistung, sondern ein „natur-gemachtes Schönes“. Begründung: „weil von Menschenhand geschaffen“. (Vgl. Musalek 2017, Bd.II, S.58)

Das „Werkschöne“, das für eine Kulturleistung steht, ist also kein Naturschönes, weil es von Menschenhand geschaffen wurde, und ist deshalb ‚naturgemacht‘? Wieso aber sollte eine von Menschenhand geschaffene Kulturleistung etwas Naturgemachtes sein?

Letztlich läuft es darauf hinaus, daß eine Kulturleistung wie das Werkschöne dasselbe ist und tut wie das, was eine Naturleistung ist und tut. Das wird nochmal bei der Bestimmung des „Kulturwillens“ explizit auf den Punkt gebracht: „Wenn im Nachfolgenden vom ‚Kulturwillen‘, von einem Willen zum Schönen als Kulturgeschehen die Rede sein wird, dann immer im Sinne dessen, dass es sich dabei um einen letztendlich naturgegebenen Willen zum Schönen handelt, der uns Menschen zum Kultivieren von Schönem, aber auch zu einer Kultivierung unserer Welt im Schönen antreibt.“ (Musalek 2017, Bd.II, S.58f.)

Die Natur kultiviert sich, mit dem Umweg über den Menschen, also selbst: eine Naturkultur oder auch eine Kulturnatur. Es ist eben wieder nur eine Frage der Perspektive.

Was mir aber den Willen zum Schönen als Naturkraft letztlich wirklich suspekt macht, ist eines der zahlreichen Beispiele für so einen Willen, wie sie Musalek seitenweise aufführt. Es geht um schöne Sexualität, in diesem Fall um Stiere und Kühe: „Wie stark dieser Wille zum Schönen der Sexualität nicht nur für den Menschen, sondern auch für manche Säugetiere sein kann, zeigt sich unter anderem an dem oft in Stierzuchten zu beobachtenden Phänomen, dass Stiere in Abwesenheit von Kühen diesen Willen zum Schönen in gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen befriedigen.“ (Vgl. Musalek 2017, Bd.I, S.137)

Wiedermal zeigt der Rückbezug alles Menschlichen auf Natur (Biologie) ein Gesicht, das eben diese Natur als Biologie allen ihren Kritikern so suspekt macht: Homophobie und sexuelle Diskriminierung. Es sind vor allem die Frauen, die schön sind bzw. zu sein haben, und es ist ihre Abwesenheit (oder ihre Verweigerung?) die Männer zur Homosexualität treibt; als eine Verirrung ihres Willens zum Schönen. Denn was so ein richtiger Stier ist, der treibt es, wenn er sie kriegen kann, nur mit Kühen.

Nein, der Wille zum Schönen ist keine Naturkraft. Er ist zunächst mal eine Tautologie. Abgesehen davon aber ist der Wille etwas Individuelles. Ein principium individuationis. Da hatte Schopenhauer Recht. Was ich selbst darunter verstehe, habe ich an anderer Stelle erläutert (Glossar und Glossen; Stichwort Wille) und gehört hier nicht hin.

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