„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. September 2022

Der Mensch, sein Wille und die Intelligenz

Joseph Jacotot (1770-1840), ein französischer Gelehrter und Didaktiker, ging davon aus, daß die Intelligenz aller Menschen gleich ist. Dabei begründete er die Intelligenz nicht als eine abstrakte Problemlösungskompetenz, wie sie mittels der späteren formalen Intelligenztests (IQ) quantifiziert werden kann. Er setzte sie vielmehr in ein Verhältnis zu den menschlichen Bedürfnissen: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient“, lautet sein vielleicht bekanntester Lehrsatz.

Bei einer Recherche im Internet bin ich auf eine ähnliche Aussage des Historikers Heinrich von Treitschke (1834-1896) gestoßen, die er zugleich mit einer bemerkenswerten Schlußfolgerung verbindet: „Nicht die Intelligenz beherrscht den Menschen, sondern der Wille, dem die Intelligenz nur dient. Man kann deshalb auch nicht die Intelligenz zum Maßstab nehmen für den moralischen Fortschritt des Menschen.“

Von Treitschke, der seine Verhältnisbestimmung von Wille und Intelligenz wohl von Jacotot übernommen hat, erkennt also die Bedürfnisse der Menschen als alleiniger Zweckbestimmung der menschlichen Intelligenz an. Sie steht jenseits einer moralischen Bewertung.

Allerdings greift Treitschke dabei noch zu kurz. Er berücksichtigt noch nicht den Umstand, daß Jacotot zufolge die Intelligenz bei allen Menschen gleich ist. Die Intelligenz der Menschen ist also nicht nur moralisch, sondern auch auf andere Weise nicht bewertbar. Es gibt keinen niedrigen oder hohen IQ. Es gibt nur eine Intelligenz, die dem Willen des Menschen genügt oder nicht genügt. Und das hängt von jedem einzelnen Menschen selbst ab.

Denn daß die Intelligenz bei allen Menschen gleich ist, heißt nicht, daß auch der Wille aller Menschen gleich ist. Die Bedürfnisse der Menschen sind verschieden; und zwar nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch in jedem Menschen selbst. Wenn wir also unseren Willen nicht kennen, wenn wir eine verworrene Bedürfnisorganisation haben – dann wird jede intelligente Problemlösungsstrategie versagen. Wir werden mit unserem Leben scheitern.

Das ist übrigens nicht nur eine anthropologische Feststellung, sondern auch eine Zeitdiagnose. Inmitten all unserer ‚intelligenten‘ Technologien werden wir untergehen, weil wir nicht wissen, was wir wollen.

Hingegen wird ein eher schlichter Mensch, der seine Bedürfnisse kennt, weniger Probleme haben, intelligente Wege zu finden, sein Leben zu führen. Andere Menschen, die auf der Höhe ihrer Zeit und ihrer Technologien ein Maximum an Lustbefriedigung anstreben, werden voraussichtlich, was die ‚intelligenten‘ Möglichkeiten betrifft, dieses Ziel zu erreichen, wohl eher plötzlich mit leeren Händen dastehen. – Ich glaube, daß es das ist, was Jacotot meinte, als er postulierte, daß die Intelligenz aller Menschen gleich ist. Intelligent sind die Menschen, denen es gelingt, das zu tun, was sie wollen.

Deshalb gibt es auch keine KI; keine ‚künstliche‘ Intelligenz. Da eine verbreitete Vorstellung darin besteht, daß KI substratunabhängig sei, hat sie keine organische Basis. Mit anderen Worten: sie hat keine Bedürfnisse. Und nochmal anders formuliert: sie hat keinen Willen. Wo aber kein Wille ist, da ist auch keine Intelligenz, die ihm dienen könnte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen