„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 13. September 2022

„Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich.“

Ulrike Herrmann schreibt in ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ (2022) zwei Sätze dicht hintereinander. Dem einen kann ich zustimmen, dem anderen nicht.

  1. „Klimaschutz ist nur möglich, wenn wir den Kapitalismus abschaffen.“ (Herrmann 2022, S.10f.)
  2. „Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich.“ (Herrmann 2022, S.11)

Dem zweiten Satz, dem ich nicht zustimmen kann, folgt ein Verweis auf unser heutiges Sozialsystem und auf unseren heutigen Wohlstand. – Das ist ungefähr so sinnvoll wie: „Die Sklaverei im antiken Griechenland war außerordentlich segensreich.“ – mit dem Verweis auf die athenische Demokratie und die griechische Kultur und Philosophie.

Herrmanns Behauptung ist schon deshalb sinnlos, weil es keine Antwort auf die Frage gibt, welche Entwicklung die europäische Gesellschaft ohne den Kapitalismus genommen hätte. Es fehlt also jede Vergleichsgrundlage.

Wenn man sich aber den faktischen Geschichtsverlauf seit Beginn des Kapitalismus ansieht, so bleibt nur die nüchterne Feststellung, daß alle die gesellschaftlichen Fortschritte, die wir angeblich dem Kapitalismus verdanken, ihm in einem mühsamen, von unsäglichem Elend und Leid gekennzeichneten, Jahrhunderte andauernden Kampf abgerungen werden mußten. Von Anfang an beruhte der Kapitalismus auf der gnadenlosen Ausbeutung von menschlichen und planetarischen Ressourcen, basierend auf dem unstillbaren Hunger nach grenzenlosem Wachstum.

Dieses Wachstum interpretiert Herrmann deshalb auch ganz richtig als den eigentlichen Kern des Kapitalismus, weshalb sie, ab hier folge ich wieder ihrer Darstellung, die Vorstellung eines „grünen Wachstums“ für eine Illusion hält. (Vgl. Herrmann 2022, S.11) An die Stelle des Wachstums muß eine „ökologische Kreislaufwirtschaft“ treten (vgl. Hermann 2022, S.12), wenn auch heute niemand genau sagen kann, wie diese im einzelnen auszugestalten sein wird. Doch eines ist schon jetzt gewiß: diese Kreislaufwirtschaft kann nicht auf dem Niveau der europäischen Wohlstandsgesellschaft von heute funktionieren: „Wenn die grüne Energie reichen soll, bleibt nur ‚grünes Schrumpfen‘.“ (Herrmann 2022, S.12)

Das so ehrlich auf den Punkt zu bringen, ist immer noch selten in unserer Gesellschaft. Die ganze Politik, auch die der Grünen, ist immer noch darauf ausgerichtet, den Leuten weiszumachen, daß sich die kapitalistische Wirtschaftsform und damit die Grundlage unseres Wohlstands ökologisch nachbessern ließe. Wörter wie ‚Verzicht‘ oder ‚schrumpfen‘ werden peinlich vermieden. Herrmann fügt den bisherigen Komposita (Risko-, Informations-, Leistungs- etc.)-gesellschaft ein neues Kompositum hinzu: aus der Wohlstandsgesellschaft muß eine „Überlebensgesellschaft“ werden. (Vgl. Herrmann 2022, S.15)

Damit benennt Herrmann den Stand der Dinge. Der Kapitalismus ist am Ende. Die Frage ist, ob die Menschen sein Ende überleben.

PS (17.09.2022): Es heißt nicht „Überlebensgesellschaft“, sondern „Überlebenswirtschaft“. Ich habe mich verlesen.

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