„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 14. September 2022

„Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich.“ (Fortsetzung)

Das erste Kapitel von Ulrike Herrmanns Buch „Das Ende des Kapitalismus“ zeichnet die Entwicklung des Kapitalismus nach, beginnt aber mit einer Art Nachruf, in dem die Autorin, getreu der Maxime „über die Toten nur Gutes“, noch einmal im einzelnen ausführt, worin genau denn eigentlich der Segen besteht, den uns der Kapitalismus angeblich beschert hat. Dazu gehören der Reihe nach aufgezählt:

  • die Beseitigung von Hungersnöten (S.19)
  • die Schaffung von Gesundheit und Komfort (S.20)
  • die Entwicklung von Technologien (S.22)
  • die totale Durchdringung aller Lebensverhältnisse (S.22f.)
  • die Ermöglichung von Schulbildung für alle (S.24)
  • die Gewährleistung von Bürgerrechten (S.24f.)
  • die Beglückung des weniger entwickelten ‚Südens‘ mit steigender Lebenserwartung und geringerer Kindersterblichkeit (S.26f.)

Beseitigung von Hungersnöten

Ich gehe die einzelnen Punkte durch. Die Abschaffung von Hungersnöten betrifft, wie Herrmann selbst feststellt, vor allem den westeuropäischen Raum. Ansonsten wird trotz der Milleniumsziele zur Abschaffung des Hungers überall auf der Welt, insbesondere in ehemaligen Kolonien, gehungert. Was die Hungersnöte in Westeuropa betrifft, waren sie gerade zur Blütezeit des Kapitalismus im 18. und 19. Jhdt. am größten. Nehmen wir z.B. die drei Hungersnöte in Irland (1845-1848): In Irland waren die Kartoffeln das ausschließliche Grundnahrungsmittel, so daß jede Mißernte unmittelbar zur Katastrophe wurde. Gleichzeitig wurde von den englischen Großgrundbesitzern Weizen  ins Ausland verkauft, wo höhere Gewinne erzielt werden konnten.

Irland war also eine Kolonie Englands, die Landwirtschaft war eine Monokultur, und die Renditeorientierung der Großgrundbesitzer führte dazu, daß wertvolle Nahrungsmittel ins Ausland verschifft wurden. Alles das sind Merkmale eines florierenden Kapitalismus. Wenn es dann doch zu einer Abschaffung von Mißernten und Hungersnöten kam, lag das gewiß nicht an einem dem Kapitalismus inhärenten Humanismus. Letztlich müßte man die direkt durch den Kapitalismus verschuldeten Todeszahlen, die auf die Verelendung und Entrechtung großer Teile der ausgebeuteten Bevölkerungsschichten zurückzuführen sind, mit den andersartig begründeten Sterberaten in vorkapitalistischen Gesellschaftsformen verrechnen, um eine entsprechende Aussage rechtfertigen zu können.

Gesundheit und Komfort

Was die Gesundheit und den Komfort betrifft, den wir dem Kapitalismus angeblich zu verdanken haben, sollten wir uns an die Regel halten, daß nicht alles, was zur gleichen Zeit unser Leben bestimmt, kausal miteinander verknüpft ist. Nur weil unsere Gesundheitssysteme und unsere komfortable Lebensführung sich gleichzeitig mit dem Kapitalismus entwickelt haben, haben wir diese noch lange nicht dem Kapitalismus zu verdanken. Es ist noch nicht mal so, daß der Kapitalismus uns ein gesundes und komfortables Leben ermöglicht hat; jedenfalls wenn wir mal davon absehen, daß wir, die wir im Kapitalismus leben, immer mehr oder weniger gezwungen sind, uns mit den kapitalistischen Rahmenbedingungen zu arrangieren, und daß wir deshalb auf die Mittel zurückgreifen müssen, die sie uns zur Verfügung stellen.

Jedenfalls sind es vor allem Frauen, einzelne herausragende Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts und gesellschaftliche Organisationen wie die Gewerkschaften, die sich engagiert, empathisch und kompetent gerade auch gegen die kapitalistischen Prärogative dafür eingesetzt haben, soziale, hygienische und medizinische Mißstände zu überwinden. Und da sind es natürlich eben die Frauen, die die notwendige Care-Arbeit geleistet haben und noch immer leisten, ohne dafür honoriert zu werden. Und es ist gerade der Kapitalismus, der am meisten von dieser Care-Arbeit profitiert hat und ohne die er gar nicht funktionieren würde. Denn er ist ein Parasit, der sich an den Ressourcen, zu denen auch unser Mitgefühl gehört, sattsaugt.

Deshalb war es auch gar keine gute Idee, Allgemeingüter zu privatisieren, wie wir jetzt in der Coronakrise gelernt haben, wo die auf finanzielle Effizienz getrimmten, schlecht ausgestatteten Krankenhäuser der Aufgabe, die Erkrankten zu versorgen, nur dank des unterbezahlten und insgesamt zu wenigen Pflegepersonals gerade so eben gerecht werden konnten.

Was den Komfort betrifft, führt Herrmann unter anderem die Smartphones an, da sie unser Leben angeblich so sehr bereichern. Das Smartphone steht aber gerade für die letzte Phase des Kapitalismus vor seinem Abgang: es dient in erster Linie der gewinnträchtigen Abschöpfung der Aufmerksamkeitsressourcen ihrer Nutzer. Komfortabel ist das vor allem für die Smartphone-Betreiber. Nie war es so leicht, die Kunden die ganze Arbeit selbst machen zu lassen. Produktionsstätten und Arbeiterschaft sind überflüssig.

Entwicklung von Technologien

Um die großartigen Technologien, die wir dem Kapitalismus verdanken, angemessen zu würdigen, verweist Herrmann auf Marx, den größten Kapitalismuskritiker: „Marx und Engels waren lebenslang fasziniert von den technischen Erfindungen ihrer Zeit, und penibel wurden die ‚Wunderwerke‘ aufgezählt ...“ (Herrmann 2022, S.22) Aufschlußreicherweise steht ganz zu Beginn dieser Liste der bewundernswerten technischen Errungenschaften die „Unterjochung der Natur“. Letztlich standen Marx und Engels und mit ihnen der Kommunismus in der ungebrochenen Kontinuität des Kapitalismus: „Sie begrüßten das entfesselte Wachstum“. (Vgl. ebenda)

Glücklicherweise hat Herrmann in der Einleitung ausdrücklich festgehalten, daß es mit dem Wachstum, wie eben auch mit dem Kapitalismus, jetzt ein Ende haben muß. Mich irritiert aber dennoch, wieso sie an dieser Stelle das Wachstum für einen „Segen des Kapitalismus“ hält.

Durchdringung aller Lebensverhältnisse

Aber auch andere Aspekte des Kapitalismus, die man gewohnt ist, zu dessen negativen Seiten zu zählen, sind bei Herrmann Teil der positiven Bilanz: „Der Kapitalismus ist aber weit mehr als nur ein Wirtschaftssystem, das Wachstum und Wohlstand ermöglicht. Er prägt uns von der Wiege bis zur Bahre und ist längst in unser intimstes Privatleben vorgedrungen.“ (Herrmann 2022, S.23) – Herrmann spricht hier von einem Phänomen, das bei Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ beschrieben wird. Kolonien gab es nicht nur in Amerika, Afrika, Asien und Australien. Es gab und gibt auch eine Kolonisierung des menschlichen Bewußtseins selbst. Und zwar allererst in Europa.

Das findet Herrmann nicht weiter schlimm. Zu den „Errungenschaften des Kapitalismus“ zählt sie „Liebesheiraten“, die erst durch den „steigende(n) Wohlstand“ möglich wurden, also dem Kapitalismus zu verdanken sind. (Vgl. Herrmann 2022, S.23) – Ob sie dabei wohl an Hollywood dachte? Wo sonst könnten Liebesheiraten kapitalismusförmiger sein als dort.

Ermöglichung von Schulbildung

Das einzige Interesse, das der Kapitalismus an Kindern hat, ist Kinderarbeit. Das kann man überall dort sehen, wo er noch nicht durch eine humane Gesetzgebung reguliert ist. Herrmann ignoriert diese geschichtliche Tatsache und hält sich an den entwickelten Kapitalismus unserer Tage, dem sie ein ureigenes Interesse an einer guten Schulbildung attestiert: „Bildung ist ein Menschenrecht, aber erst der Kapitalismus hat zahllose Stellen geschaffen, die gut geschultes Personal erfordern.“ (Herrmann 2022, S.24)

Das ist sicher so. Heutzutage findet man ohne Abitur keine Stelle mehr. Für ungelernte Arbeiter gibt es keinen Bedarf. Aber erstens ist Bildung mehr als berufliche Qualifikation. An solcher Bildung hat unsere Gesellschaft kein Interesse mehr, wenn man sich anschaut, was an Schulen und bologna-reformierten Universitäten passiert. Zweitens hat die einseitige Ausrichtung auf eine umfassende Digitalisierung längst ein anderes Problem geschaffen: Es fehlt an Handwerkern und Pflegepersonal.

Drittens dient schulische Bildung nicht den Interessen des Kapitalismus, sondern Schülerinnen und Schülern; jedenfalls forderte das Wilhelm von Humboldt, der sich für ein zweigeteiltes Bildungssystem – erst Allgemeinbildung, dann Berufsausbildung – einsetzte, um Wirtschaftsinteressen aus der Schule rauszuhalten.

Gewährleistung von Bürgerrechten

Folgt man Herrmanns Darstellung, so verdanken wir es dem Kapitalismus, daß wir gegen ihn protestieren können: „Der Kapitalismus ist kein Paradies und hat längst nicht alle Ungleichheiten beseitigt. Neu ist aber, dass gegen Benachteiligungen zumindest protestiert werden kann.“ (Herrmann 2022, S.24f.)

* * *

Alle diese Fortschritte und Wohltaten verdanken wir also dem Kapitalismus. Sogar außerhalb Europas darf man sich freuen, „dass der Kapitalismus den globalen Süden erreicht hat und nicht auf die traditionellen Industrieländer beschränkt bleibt“. (Vgl. Herrmann 2022, S.26) – Die Lebenserwartung steigt, und Neugeborene haben „heute mehr Chancen, ihren fünften Geburtstag zu erreichen“. (Vgl. ebenda)

Kein Wort darüber, daß der Kapitalismus schon vor Jahrhunderten dort angekommen war: in Gestalt von Kolonialismus und Imperialismus. Eigentlich war man dort eher froh gewesen, daß man ihn im Laufe des 20. Jhdts. nach und nach wieder losgeworden war.

Aber natürlich hat sich der Kapitalismus nur der Gestalt als Kolonialmacht entledigt. Solange nicht alle Ressourcen erschöpft sind, wird er in anderer Gestalt bleiben.

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