„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 15. September 2022

Maschinen, Lohnarbeit und Sklaverei

Herrmann setzt den Beginn des Kapitalismus mit der Erfindung und dem Bau von Maschinen an, die die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft so erhöhten, daß ein ständiges Wachstum der Gewinne denkbar wurde. (Vgl. Herrmann 2022, S.30ff.) Diese Maschinen, zunächst die mechanischen Webstühle, wären zum Teil schon im antiken Griechenland technisch möglich gewesen, und es sind in China zur Zeit der Qing-Dynastie (1644-1911) sogar einzelne Prototypen entwickelt worden. Aber die Sklaverei im antiken Griechenland und das reichliche Angebot an billiger Arbeitskraft in China bewirkten, daß diese Volkswirtschaften auf dem status quo beschränkt blieben und es zu keinem Wirtschaftswachstum kam.

Im England des frühen 18. Jhdts. aber waren die Arbeitslöhne so hoch, daß die Investition in mechanische Webstühle und in Dampfkraft wirtschaftlich rentabel war. So wurde England zum Mutterland des Kapitalismus.

So weit die Erzählung von Ulrike Herrmann. Von anderen Erzählungen zur Entwicklung des Kapitalismus unterscheidet sie sich darin, daß Herrmann ihn erst relativ spät, im 18. Jhdt., beginnen läßt. Karl Marx läßt den Kapitalismus schon im 16. Jhdt. in Schottland mit der „ursprünglichen Akkumulation“ beginnen; also mit der gewaltsamen Inbesitznahme der Allmenden (commons), frei zugängliche Ländereien, die allen zur Verfügung standen, um dort ihr Vieh zu weiden. Diese Allmenden sicherten auch den ärmeren Bevölkerungsschichten ohne Landbesitz ein Auskommen. Durch den Landraub bzw. durch die ‚Einzäunung‘ wurden diese  Ländereien privatisiert und die Menschen waren gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Sie wurden zu Lohnarbeitern.

Marx läßt also den Kapitalismus mit der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft durch Lohnarbeit beginnen. Maschinen kamen erst später und dienten vor allem der Produktivitätssteigerung der menschlichen Arbeitskraft.

Josef W. Moore und Raj Patel („Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen“ (2018)) lassen den Kapitalismus noch viel früher beginnen: im 15. Jhdt. Sie verweisen dabei nicht auf Maschinen wie Herrmann oder auf die Lohnarbeit wie Marx, sondern auf die Zuckerrohrplantagen in den amerikanischen Kolonien. Diese Plantagen wurden nicht mit Maschinen und auch nicht mit Lohnarbeitern, sondern mit Sklaven betrieben. Dabei weisen Moore/Patel Christoph Kolumbus eine entscheidende Rolle zu.

Noch bevor Kolumbus sich auf den Weg machte, ‚Indien‘ bzw. den Weg dorthin zu entdecken, experimentierte er auf Madeira mit Zuckerrohrplantagen, um herauszufinden, wie sich die größtmögliche Produktivität aus Land und Leuten herauspressen läßt. Die ursprünglich waldreiche Insel Madeira ist durch Zuckerrohrplantagen von der Art, wie Kolumbus sie betrieb, vollständig entwaldet worden. So weit also das Ergebnis, was das Land betrifft.

Was die Leute betrifft, haben wir es auf diesen Plantagen nicht mit Lohnarbeitern, sondern mit Sklaven zu tun. Kolumbus war Sklavenhalter, und zwar nicht im Sinne eines ‚netten‘ Patriarchaten, der schonend mit seinem Besitz umgeht, sondern als auf größtmöglichen Profit versessener Kapitalist. Um herauszufinden, wieviel Gewinn sich aus der Sklavenarbeit herausholen ließe, ging er bis zur psychischen und physischen Vernichtung der ihm ausgelieferten Arbeitskräfte.

Moore/Patel heben hervor, daß Kolumbus dabei Methoden einer industriellen Produktionsweise entwickelte, die dann für die späteren Fabriken beispielhaft wurden: „Madeira wurde zu einem Experimentierfeld, auf dem man die Grenzen menschlicher Widerstandsfähigkeit und Kraft auslotete und neue Ordnungs-, Prozess- und Spezialisierungstechnologien erprobte, wie sie Jahrhunderte später in den industriellen Fabriken in England zum Einsatz kommen sollten.“ (Moore/Patel 2018, S.43)

Um auf den Punkt zu kommen: Sklaverei ist einer kapitalistischen Produktionsweise nicht wesensfremd. Nicht die Technologie und nicht die Lohnarbeit machen den Kapitalismus aus, sondern der unbedingte Wille zum größtmöglichen Profit. Ein anderes Wort für unbegrenztes Wachstum.

Dennoch ist Herrmanns Sichtweise auf die Maschine als Produktionsfaktor spannend. So stellt sie u.a. fest, daß die ersten Maschinen, also die ersten mechanischen Webstühle und Dampfmaschinen, nicht im Verbund von investitionsbereiten Unternehmern und wissenschaftlicher Forschung entwickelt wurden: „Die frühen Textilmaschinen wurden nicht etwa von Wissenschaftlern gebaut, sondern meist von Handwerkern, die kaum lesen und schreiben konnten.“ (Herrmann 2022, S.31)

Das gilt so sogar noch für die ersten Dampfmaschinen. (Vgl. Herrmann 2022, S.43f.) Hinter diesen Erfindern und Bastlern stand kein finanzkräftiges Kapital. Sie beschäftigten sich außerhalb ihrer Berufe oder in prekären Lebensverhältnissen mit der Entwicklung ihrer Erfindungen.

Kapitalismus und Technologie fanden also erst später zusammen, im Bündnis mit der modernen Wissenschaft. Aber die der industriellen Technologie zugrundeliegende Kreativität ist eine menschliche Ressource, die der Kapitalismus zwar ausbeutet, aber weder ermöglicht, noch erschaffen hat.

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