„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 23. April 2023

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends (1979/81)

Nach der Lektüre von „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) war ich noch mal neugierig auf „Kein Ort. Nirgends“ (1979), ein Büchlein von grademal 112 Seiten, das ich vor vierzig Jahren schon mal gelesen hatte. Es beschreibt einen einzigen Nachmittag in einem bürgerlichen Salon in Winkel am Rhein, wo Christa Wolf Karoline Günderrode und Heinrich Kleist einander begegnen läßt.

Schon beim ersten Mal, als ich das Buch in die Hand nahm, verstand ich den Titel als deutsche Übersetzung des Wortes ,Utopie‛. Jetzt, nach meiner zweiten Lektüre und nachdem ich „Tabou“ gelesen hatte, staune ich über den thematischen Gleichklang zwischen diesen beiden Büchern. In beiden Büchern geht es um das Gefühl, nicht dorthin zu gehören, wo man sich befindet, und nicht in die Zeit, in der man lebt.

Noch radikaler: Christa Wolf führt am Beispiel Kleists den radikalen Zweifel daran vor Augen, daß es überhaupt irgendwo in dieser Welt einen Ort geben könnte, an dem das Leben lebbar wäre: „Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends.“ (Wolf 1981, S.108)

Kleist zur Seite stellt Christa Wolf eine Frau, die Günderrode, die schon qua Geschlecht in keine der Gesellschaften paßt, die von Männern geschaffen wurden. Beide, Günderrode und Kleist, begingen Selbstmord.

Trotz dieses historischen und kulturellen Hintergrunds ist doch klar, daß die eigentliche kritische Stoßrichtung des Buches auf die DDR zielt, als der kulturellen Nachfolgerin Preußens, von dem es im Buch heißt, daß Kleist ihm „freudig seine Jugend geopfert“ habe. (Vgl. Wolf 1981, S.66) Noch deutlicher wird die Kritik an der DDR, wenn es von Preußen heißt, daß es sich nicht um ein „wirkliche(s) Gemeinwesen“, sondern nur um die „Idee von einem Staat“ gehandelt habe. (Vgl. ebenda)

Auch Christa Wolf hatte an diese Idee geglaubt. Bei der Stasi hatte man ihr das Pseudonym „Doppelzunge“ gegeben, weil es diesen Leuten über den geistigen Horizont ging, daß jemand Kommunistin und trotzdem nicht einverstanden mit der DDR-Politik sein konnte.

In diesem Buch jedenfalls, so mein Eindruck, ist Christa Wolf auf der Höhe der Revolution von 1989 zehn Jahre später. Es ist mir unerfindlich, wie es zu den Angriffen westdeutscher Intellektueller gegen ihre Person hatte kommen können.

Wie in „Tabou“ verbindet Christa Wolf das Gefühl der geistigen und existenziellen Unzugehörigkeit mit der Frage nach dem Status des geschriebenen Wortes. Was wäre, wenn man den Leuten ihre Gedanken an der Stirn ablesen könnte? (Vgl. Wolf 1981, S.10) In die gleiche Richtung zielt Kleists Zweifel am Wort als Ausdruck der Seele. (Vgl. Wolf 1981, S.40) Was die Günderrode befürchtet, daß das unter den Menschen zu Mord und Totschlag führen könnte ‒ ein anderer macht an der Unlesbarkeit von Gedanken die Gedankenfreiheit fest ‒, läßt Kleist regelrecht verzweifeln: er „glaubt, niemals mehr schreiben zu dürfen“. (Vgl. Wolf 1981, S.40)

Wir haben es hier wieder, wie schon in „Tabou“, mit der Differenz von Meinen und Sagen zu tun; und auch hier geht es nicht um eine anthropologische Dimension, sondern um einen politischen und psychologischen Zustand: was nicht sagbar ist, ist auch nicht lebbar. Es bleibt nur die Hoffnung, daß es einmal in der Zukunft einen Ort gibt, eine Nachwelt, wo Menschen wie Kleist oder Günderrode verstanden werden und ihrem Leben so, im Nachhinein, Sinn gegeben würde. ‒ Kleist: „Ach diese Unart, immer an Orten zu sein, wo ich nicht lebe, oder in einer Zeit, die vergangen oder noch nicht gekommen ist.“ (Wolf 1981, S.29)

Inzwischen gibt es keine DDR mehr. Aber wie wir aus „Tabou“ wissen, ist die neue BRD keineswegs der Ort geworden, in dem ein Kleist sich zuhause fühlen könnte. Doch nach Me-too und Gendersprechexperimenten könnte das vielleicht Günderrode etwas anders empfinden. Stimmt da nicht zumindest die Richtung?

Christa Wolf formuliert einen Satz, der ein Zögern zum Ausdruck bringt: „Er nicht ganz Mann, sie nicht ganz Frau ...“ (Wolf 1981, S.95)

Ich erinnere mich an einen Fragebogen in meinem Studium, den wir damals in einem Pädagogikseminar ausfüllten. Es ging um Persönlichkeitsmerkmale. Als der Dozent die Ergebnisse der Auswertung unter uns verteilte, fügte er noch eine Warnung hinzu: es handle sich nicht um unveränderliche, ein für allemal festliegende Merkmale. Menschen entwickelten sich ständig weiter, so der Dozent. In meiner Auswertung wurde mir bescheinigt, daß ich eine weibliche Persönlichkeitsstruktur hätte. Das war für mich kein Problem. Und ich habe auch nicht den Eindruck, daß ich mich in dieser Hinsicht ,weiter‛ entwickelt hätte.

Zum Schluß erzählt Kleist der Günderrode von seinem Dramaprojekt. (Vgl. Wolf 1981, S.115f.) Ein Normanne namens Robert Guiscard will in Griechenland ein Normannenreich errichten. Wir haben es also wieder mit der „Idee von einem Staat“ zu tun. Ein Orakel warnt den Herzog davor, nach Jerusalem zu gehen, weil er dort sein Ende finden würde. ‒ Jerusalem, ein weiterer idealer Staat.

Guiscard fühlt sich sicher, denn vor Griechenland ist er ja nicht gewarnt worden. Dann aber stirbt er plötzlich auf Korfu, wo „einst eine Stadt mit Namen Jerusalem (lag)“. (Vgl. Wolf 1981, S.116)

So verschmilzt also des Herzogs Wunsch, in Griechenland ein Normannenreich zu errichten, mit der Warnung vor Jerusalem, was gleichsam über alle Versuche, eine ideale Gesellschaftsform zu verwirklichen, einen Fluch verhängt: kein Ort. Nirgends.

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