„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 19. April 2023

Christa Wolf: Auf dem Weg nach Tabou (1994)

Bei Christa Wolfs Buch „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) handelt es sich um einen Sammelband mit 29 Einzeltexten aus den ersten vier Jahren des ,wiedervereinigten‛ Deutschland, unter denen sich insgesamt drei Briefe von Jürgen Habermas, Günter Grass und Volker Braun befinden. Alle übrigen, von der Autorin selbst verfaßten Texte kreisen um die Frage nach dem Volk; insbesondere dem Volk des untergegangenen deutschen Teilstaats DDR. Zugleich stellt Christa Wolf die Frage nach dem Volk, das die alte DDR in einer friedlichen Revolution überwand und in ihr, Wolf, die Hoffnung auf eine neue DDR geweckt hatte. Und sie fragt nach dem Volk der neuen BRD mit ihren vier bis fünf neuen Bundesländern.

Dabei erweist sich das Wort ,Volk‛ als zu unergiebig, um alle Fragen, die die Autorin bedrängen, stellen zu können. Es braucht noch ein anderes Wort, ein Wort, das nicht exkludiert. Zu dem sich Menschen bekennen können, auch wenn sie aus dem Land fliehen mußten, das sie lieben. Es ist eben dieses Wort, ,Land‛, das, obwohl so viele es in seiner Geschichte verlassen mußten, weil sie vertrieben wurden, aus politischen, religiösen und ,rassistischen‛ Gründen, offen genug dafür ist, dennoch von ihnen weiterhin geliebt zu werden, auch wenn es sie so unermeßlich leiden machte. Dazu später mehr.

Zunächst zum ,Volk‛:

Gleich am Anfang ist von „Staatsvolk der DDR“ die Rede. (Vgl. Wolf 1994, S.9) Dieses Volk hatte einmal die Arbeiterklasse sein sollen (vgl. Wolf 1994, S.262), und Christa Wolf hatte damit, nach dem Nazi-Deutschland, ihre erste Hoffnung auf ein anderes, besseres Deutschland verbunden. Eine Hoffnung, die ihr in den siebziger Jahren verlorenging, als sie ihre offiziellen Funktionen als Repräsentantin der DDR-Literatur niederlegte und begann, sich politisch vor allem darauf zu konzentrieren, sich für bedrängte Kolleginnen und Kollegen einzusetzen. Ihre zweite Hoffnung waren dann die Menschen, die 1989 auf die Straße gingen und „tausendfach“ skandierten: „Wir ‒ sind ‒ das ‒ Volk!“ (Wolf 1994, S.9)

Ihr Weg nach „Tabou“ besteht in dem Versuch, zu ergründen, warum sich auch diese Hoffnung nicht erfüllen sollte.

Immer wieder versucht Christa Wolf, zu differenzieren, inwiefern ihr Volk, das Volk, auf das sie ihre Hoffnung gesetzt hatte, eine besondere „Menge“ oder „Masse“ gewesen ist. Denn wie bei jedem Volk, das sich auf die Straße begibt, haben wir es ja mit einer „Massenbewegung“ zu tun. (Vgl. Wolf 1994, S.217) Und zur Massenbewegung gehört eine „Massenpsychologie“, wie in Kalifornien, wo sich die Autorin ein Jahr aufhält und wo sie Fernsehprediger sieht, die die Massen in religiöse Verzückung versetzen. (Vgl. Wolf 1994, S.236)

Aber das 1989er Volk, auf das sie ihre zweite Hoffnung setzte, war anders, auch massenhaft, aber „gutgelaunt“, „zwanglos“ und vor allem „souverän“. (Vgl. Wolf 1994, S.43) Bis dann im ,wiedervereinigten‛ Deutschland „jugendliche Horden“ Häuser anzündeten, und Städtenamen, Hoyerswerda, Solingen, Mölln, zu Symbolen eines Rückfalls in die Barbarei wurden. Und Christa Wolf muß gestehen: „Gleichwohl sind sie unsere Kinder.“ (Wolf 1994, S.249) ‒ Wieso also folgte der souveränen Masse eine braune Masse nach? Oder ist vielleicht doch jede Masse tendenziell faschistisch?

Diese letzte Frage stelle ich, nicht Christa Wolf. Sie wagt es nicht, sie zu stellen. Obwohl alle ihre Gedanken um dieses unausgesprochene Problem kreisen. Ihr Volk, das Volk einer möglichen neuen, besseren DDR, das zusammen mit der alten DDR untergegangen ist, war ein gleichermaßen „übermütiges“ wie „selbstironisches Volk“ gewesen, das sich selbst als Masse in Bewegung reflektierte, als es 1989 grüßend an einem spontan von Schauspielern improvisierten Politbüro vorbeimarschierte und es so auf gleichermaßen anschauliche wie vergnügliche Weise zu Grabe trug. (Vgl. Wolf 1994, S.320)

„... der Souverän ging auf die Straße und lachte seine angemaßten Lenker und Leiter weg: ,Tschüß!‛ Wann gab es das in diesem Deutschland? Wann waren Deutsche als Masse so undeutsch: humorvoll, heiter, unverbissen, locker, voller Lebensfreude ...“ (Wolf 1994, S.321)

War es wirklich so gewesen? Waren sie wirklich ausnahmslos alle, als Masse eben, so humorvoll und locker, so voller Lebensfreude gewesen? Oder hatte es nicht vielleicht doch einige in dieser Masse gegeben, oder sogar viele, die aus einem glücklichen Massenbewußtsein heraus, mit berauschtem, vernebeltem Verstand, mitgelacht, sich mit gefreut haben mit den anderen, ohne im mindestens zu der Reflexionsleistung fähig zu sein, wie sie die das Politbüro improvisierende Schauspielertruppe an den Tag gelegt hatte? Oder die vielen Transparente mit ihren klugen und sensiblen, fröhlichen Sprüchen: wer hat sie erdacht? Wer hat sie formuliert? Das Volk?

Wie kam es, daß dieselben Leute, die Wir-sind-das-Volk! skandiert hatten, plötzlich „Wir ‒ sind ‒ ein ‒ Volk!“ skandierten?

Zum ,Land‛:

Diese Frage stellt sich letztlich auch Christa Wolf. Aber zunächst weicht sie ihr aus. Sie stellt nicht mehr die Frage nach dem Volk, sondern die Frage nach dem Land. Sie zitiert Anna Seghers, die jüdische Emigrantin, die nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland in den Teilstaat DDR zurückkehrte, auf der Suche nach dem Land, das sie liebte. Mit Bezug auf Günderrode, Hölderlin, Büchner, Kleist, Lenz und Bürger schreibt Seghers: „Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben. Sie liebten gleichwohl ihr Land.“ (Zitiert nach: Wolf 1994, S.222)

Für Intellektuelle ist es leichter, ein Land und seine Kultur zu lieben, als das Volk, das meist nichts von ihnen wissen will. Man könnte es so auflösen: sie liebten ihr Land und litten an ihrem Volk. Auch Christa Wolf träumt von einer Utopie, das ein Land ist, in dem es sich zu leben lohnt. Ein besseres Land. Ein besseres Deutschland. So wie Anna Seghers sich für das „deutsche Teilland“, das die DDR gewesen ist, verantwortlich gefühlt hatte, auf der Suche nach einer „Gerechtigkeit“, die ihr als Jüdin versagt geblieben war und die sie nun der „Jugend“ in der DDR nahezubringen versuchte. (Vgl. Wolf 1994, S.227) Auch hier und immer wieder spricht aus jeder Zeile von Christ Wolfs Buch die Frage nach ihrer Verantwortung für das zweifache Scheitern, das der alten DDR ‒ „Wir haben dieses Land geliebt“ (Wolf 1994, S.273) ‒ und das der neuen Hoffnung von 1989: „Wir hätten“, gibt die Autorin ihre Antwort auf eine Publikumsfrage nach einer Lesung in indirekter Rede wieder, „für einen kurzen geschichtlichen Augenblick an ein ganz anderes Land gedacht, das keiner von uns je sehen werde. Und das eine Illusion ist, was ich damals schon wußte.“ (Wolf 1994, S.292)

Christa Wolf kommt um die unvermeidliche Einsicht nicht herum. Die Masse läuft Illusionen hinterher, die aus ihrem Rausch hervorgehen. Das Volk, das Land, ist so eine Illusion, ein Phantom: „Ich finde, es ist an der Zeit, im Osten wie im Westen Deutschlands von dem Phantom Abschied zu nehmen, welches das je andere und damit auch das eigene Land lange für uns waren. Zur Sache, Deutschland!“ (Wolf 1994, S.337)

Zur Sprache:

Was heißt das, dieses „Zur Sache, Deutschland!“? Wen ruft Christa Wolf hier zum Dialog auf? Wohl kaum das Volk. Aber vielleicht all die anderen, die immer schon von dem Volk Ausgegrenzten, die dennoch dieses Deutschland geliebt hatten und immer noch lieben, als Teilland oder als wiedervereinigt?

Sie liebten ein Phantom, ein Phantom, über das bereits „alles gesagt“ ist, wie es gleich zu Beginn des letzten Sammelbandtextes heißt: „Über Deutschland ist alles gesagt.“ (Wolf 1994, S.313) ‒ Und zwar von allen. Von extrem rechts bis extrem links. Und irgendwo dazwischen von den Intellektuellen.

So wie das Volk eine Masse bildet, haben wir es auch mit Wortmassen zu tun. Wortmassen, die einen Wortbrei bilden, der „blubberte, zischte, überkochte“; ein Brei, der „nicht mehr zu bändigen“ war und ist: „er ergießt sich über Herd und Küche, aus dem verunreinigten Haus hinaus auf die Gasse, in alle Straßen unserer deutschen Städte.“ (Vgl. Wolf 1994, S.313)

Wie hatte es zu dieser Vermassung, zur Breiwerdung von Sprache, kommen können? Wie hatte aus den Tagebüchern, Erzählungen, Romanen deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller so ein Wortbrei werden können? Wieso kann Christa Wolf ihrer eigenen „Mit-Schrift“ (Wolf 1994, S.9) nicht mehr trauen? Wieso steht ihr alles, was sie beobachtet, an sich und ihrem Land, in dem Moment, wo sie es aufschreibt, unter dem Verdacht, verfälscht zu sein? ‒ „(A)ber“, so Christa Wolf resignierend, „was führte nicht zur Verfälschung?“ (Vgl. Wolf 1994, S.285)

Wieso verwandelt sich gerade ihr Wunsch, „alles zu sagen“ ‒ gleichgültig, ob schon alles gesagt worden ist oder nicht ‒ in die „Scheu“, ein „Geheimnis“ zu verletzen? (Vgl. Wolf 1994, S.175) ‒ Ist das verletzte Geheimnis schuld an der Breiwerdung des Wortes?

Plessner könnte aus seiner anthropologischen Perspektive einiges zur Differenz von Meinen und Sagen anmerken. Aber Christa Wolfs Problem ist nicht anthropologischer, sondern politischer, sozialer und psychologischer Natur. Es sind die Stasiakten; also ,Mit-Schriften‛ anderer Art als die Texte der DDR-Autoren und die nichtsdestotrotz zur Verfälschung und wortwörtlichen Vermassung von Sprache geführt haben. In die berufsbedingte Selbstbeobachtung der Schriftstellerin mischte sich die Fremdbeobachtung der Stasi, so daß es für Christa Wolf schließlich schwierig wurde, zwischen echten und verfälschten Wörtern zu unterscheiden: „Die Akten enthalten nicht ,die Wahrheit‛, weder über den, zu dessen Observation sie angelegt wurden, noch über diejenigen, die sie mit ihren Berichten füllten.“ (Wolf 1994, S.294)

So wurde für Christa Wolf ihre eigene Mitschrift verdächtig, Teil des Wortbreis zu sein, der sich auf die Straßen ergoß. Die Vermengung dieses Breis setzte sich im wiedervereinigten Deutschland fort, wo die Westdeutschen glaubten, Gesinnungen und Taten ihrer ostdeutschen Mitbürger aus den Stasiakten ablesen zu können. Christa Wolf mußte erfahren, „wie schwierig es sein kann, sich ehrlich und angemessen damit (mit der eigenen Vergangenheit ‒ DZ) auseinanderzusetzen, wenn in der deutschen Öffentlichkeit ‚Vergangenheitsbewältigung‛ weithin als Skandalchronik stattfindet, reduziert wird auf das Blättern in Akten, die ihrerseits eine Reduktion von Lebensläufen auf ein Ja-Nein-Schema, auf schwarz-weiß, schuldig-unschuldig darstellen und nur auf diese Fragestellung Auskunft geben können.“ (Wolf 1994, S.330)

Zur Volksseele:

Was also hat es, massenpsychologisch gesehen, mit der „Menge“, der „Masse“, dem „Volk“ auf sich? Was soll man sich unter der „Volksseele“ (Wolf 1994, S.315), was unter einem „frei flottierenden Nationalgefühl“ (Wolf 1994, S.324) vorstellen?

Ich wünschte, Christa Wolf wäre noch am Leben, so daß ich ihr meine Sicht dazu mitteilen könnte. Ich wäre auf ihre Entgegnung gespannt. Meiner Ansicht nach kann diese ominöse Volksseele nichts anderes sein als die Lebenswelt, in die wir alle eingebettet sind. Eingebettet wie in Sedimentschichten übereinandergelagerte „Gerippe“ (Wolf 1994, S.239). Denn alle Menschen bestehen aus Schichten, und wir alle haben ‒ qua Lebenswelt ‒ Leichen im Keller, von denen wir nichts wissen wollen, die aber jederzeit wieder lebendig werden können.

Das Bild von den übereinandergelagerten Gerippen, habe ich aus Christa Wolfs Buch, das zurecht den Namen „Tabou“ im Titel führt. Auch ein anderes Bild aus ihrem Buch weist in diese Richtung. Sie schreibt von übereinanderbelichteten Erfahrungsbildern, und wie bei einem mehrfach belichteten Photo geistern gespensterhafte Gestalten durchs Bild, die voneinander nichts wissen, die aber, ebenfalls ein von Christa Wolf entworfenes Bild, sich plötzlich wie durch eine geöffnete Schleuse in unsere Köpfe hineinergießen wie ein starker, andersherum fließender Bewußtseinsstrom. (Vgl. Wolf 1994, S.206) So daß wir nachts im Traum im rasenden Fall „durch Schichten von immer dichterer Konsistenz / Luft Wasser Morast Geröll / steckenzubleiben“ und „zu ersticken“ drohen. (Vgl. Wolf 1994, S.279)

Die ,Volksseele‛, aber eigentlich unsere Lebenswelt, besteht aus solchen Schichten, und ganz tief unten befindet sich der „Bodensatz“. In jeder und jedem von uns.

Brot statt Blut:

Wo also ‒ zwischen Mensch und Erde, zwischen Erde und Planet ‒ befindet sich das Volk? Ist es ein Organismus? Verstoffwechselt es das Blut jener, die sich ihm zugehörig fühlen und für es zur Ader gelassen werden?

Es ist wohl doch nur ein Phantom, von dem im letzten Text des Sammelbandes die Rede ist. Denn der Volksseele, dem frei flottierenden Nationalgefühl, läßt sich keine Substanz zuordnen, kein pseudoorganisches Ganzes aus Menschen, die sich zu einer Menge zusammenfinden und auf der Straße Parolen skandieren. Sie besteht lediglich aus einigen unteren Schichten des „Intelligenzgewebes“, wie Christa Wolf die menschlichen Körperzellen nennt (vgl. Wolf 1994, S.132f.), und darüber sich erhebend ein reflektierendes Ich, souverän und selbstironisch, ein Mensch, der sich selbst zu einem freien Denken, zu einer freien Rede ermächtigt, zu einer Mitschrift von allem, was aus den verschiedenen Schichten, den Sedimenten, dem Bodensatz aufsteigt ins wache Bewußtsein.

Diese Phantome dingfest zu machen, sie handhabbar zu machen, sie zu verstoffwechseln und auszuscheiden, dazu sind Mitschriften wie Christa Wolfs Buch über ihren Weg nach Tabou da. Am Ende wird dann das Blut, das wir für das Volk hatten vergießen sollen, zum Brot, das uns, „zusammen mit Wein, zum Gespräch (anregt), zu Vertrautheit, Freundschaft, Gastfreundschaft“. (Vgl. Wolf 1994, S.339)

Das wäre doch mal eine Utopie, die sich zu leben lohnt. Kein Volk ist dafür nötig; nur Gemeinschaft, du und ich und noch einige. Aber niemals viele.

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