„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. April 2023

Flix/Kissel: „Münchhausen“ (2016)

Flix alias Felix Görmann und Bernd Kissel haben einen neuen Münchhausen kreiert. Einen Münchhausen, von dem wir die „Wahrheit übers Lügen“ lernen können, wie es im Untertitel heißt. Denn Münchhausen besteht darauf, daß er niemals lügt! Unter keinen Umständen!

Was also habe ich übers Lügen gelernt? Ich befürchte nicht viel, und ich habe den Eindruck, daß das auch gar nicht Flixens Absicht gewesen ist. Alles, was uns Sigmund Freud ‒ denn Freud ist es, der den offensichtlich verwirrten, aus der Zeit gefallenen Baron behandelt ‒ über seinen Patienten zu erzählen weiß, endet im Abgründigen. Nicht einmal der Mord am Bruder und der Familie, für den Münchhausen zum Tode verurteilt worden ist, wird wirklich aufgeklärt, und am Ende liegen sich die beiden Brüder auf der Rückseite des Mondes in den Armen und man fragt sich: Warum?

Freud ist ein Mondmensch, wie mir aufgefallen ist. Es heißt, Mondmenschen steigen vom Mond, wo alles farbig ist, herab, um den Menschen auf der Erde, wo alles schwarz, weiß und grau ist, zu helfen. Nach der Behandlung von Münchhausen stirbt Freud. Er löst sich in Luft auf und verschwindet als Rauch durch den Schornstein.

Der für mich wichtigste Satz des Comics stammt von Freud: „Was andere denken, ist selten die Wahrheit und meistens nur Konsens.“ (Flix/Kissel 2016, S.167)

Da kann man in zwei Richtungen weiterdenken. Einmal könnte man denken: auf der gesellschaftlichen Seite ist alles nur Konsens. Wahrheit suchen wir da vergeblich. Wahrheit ist eine Sache in Bezug auf mich selbst, als Individuum. So muß Münchhausen vielleicht lernen, seine Fixierung auf die Wahrheit zu überwinden und den Gedanken zuzulassen, daß er vielleicht doch ein Mörder sein könnte. Das könnte vielleicht der Sinn seines letzten Satzes auf der letzten Seite des Comics sein: „Ich habs geschafft!“ (Flix/Kissel 2016, S.190) ‒ Vielleicht umarmen sich die beiden Brüder deshalb. Und es ist wieder alles farbig.

Man könnte es auch so sehen, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt. Denn was sollte Wahrheit sein: eine metaphysische Einsicht in das Wesen und Geschick des Menschen? Oder halten wir uns an die sogenannten Fakten, an das, was wir mit unseren eigenen Augen sehen oder was die Wissenschaft herausgefunden hat? Beides bringt uns kein Stück weiter. Was die Fakten betrifft, müssen sie immer interpretiert werden, und schon kommt wieder die subjektive Willkür ins Spiel. Da liegt ein toter Mensch. Das ist ein Faktum. Aber was bedeutet dieses Faktum? Ist er an Herzversagen gestorben? Ist er getötet worden? Wenn man dem Baron glaubt, war ein Hirsch schuld. Solche Fragen lassen sich beliebig weiter entwickeln und beziehen sich doch immer auf ein und dasselbe Faktum.

Gibt es also Wahrheit?

Oder müssen wir nur auf richtige Weise lügen, um der Wahrheit näher zu kommen?

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