„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 7. April 2023

Kleine Karfreitagspredigt

Ich gehe mit diesem Blogpost ein Wagnis ein. Ich will als alter weißer Mann über Diskriminierung schreiben, also gewissermaßen wie ein Blinder über Farben. Wobei auch diese Bemerkung schon wieder eine Diskriminierung beinhaltet.

Ich vergrößere mein Wagnis sogar noch, indem ich mich weigere, zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen zu unterscheiden. Ich will alle Diskriminierungen einander gleichsetzen. Dabei gestehe ich allerdings zu, daß es ältere und jüngere Formen der Diskriminierung gibt: die Diskriminierung der Frauen ist die älteste, so alt wie das Patriarchat, und reicht ca. drei bis vier Tausend Jahre zurück.

Warum gehe ich dennoch von einer prinzipiellen Gleichheit aller Formen der Diskriminierung aus? ‒ Weil die Diskriminierungserfahrung Teil der sozialen Natur des Menschen ist.

Jean-Jacques Rousseau hat es auf den Punkt gebracht: es geht letztlich um unser Gerechtigkeitsempfinden. Ungerechtigkeit löst immer dann die größte Empörung aus, wenn sie uns von unseren Mitmenschen zugefügt wird. Ein Naturereignis, so sehr es uns schadet, würde niemals als Ungerechtigkeit empfunden, schreibt Rousseau.

Natürlich beklagen Menschen immer das ihnen widerfahrene Unglück, auch wenn es sich um Naturkatastrophen handelt. Aber um sich beklagen zu können, richten sie sich wie Hiob gegen Gott, den sie verantwortlich machen können. Oder sie verbrennen Hexen. Sie versuchen Personen verantwortlich zu machen, auch wenn es die schwarze Pest ist, die sie sterben läßt.

Wo wir gerade bei Gott sind. Am heutigen Karfreitag ist es vor allem Judas, der von allen, von Gott und seinen Gläubigen, diskriminiert wird: als einer, der von Anfang an dafür vorgesehen war, der Schuldige zu sein; und der einzige zu sein, dem nicht vergeben werden kann.

Um welche Diskriminierungen geht es mir also heute? Um diejenigen, die strukturell bedingt sind. Und dabei denke ich zwar auch ans Patriarchat, aber eben nicht nur an den ,Rassismus‛ oder an den Sexismus. Ich denke an die Infrastruktur einer Gesellschaft, die über die Dazugehörigkeit von Menschen entscheidet. Und ich denke daran, wie sehr diese Infrastruktur Teil unserer Persönlichkeitsstruktur geworden ist. Wofür ich auf das Smartphone verweise: als nicht mehr wegzudenkender Bestandteil unserer Persönlichkeit.

Mir ist beim Lesen von Christa Wolfs „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) aufgefallen, daß die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die political correctness schon sehr alt ist. Sie reicht viele Generationen zurück ins 20. und 19. Jhdt. Die heutige Genderdebatte bildet nur eine weitere Variante der political correctnesss. Man kennt noch die vielen Variationen des N-Wortes, wie man Menschen mit anderer Hautfarbe korrekt bezeichnen darf, bis wir irgendwann verstanden, daß jeder Blick auf die Hautfarbe rassistisch ist: daß es da keine korrekte Bezeichnung für gibt, weshalb das diskriminierende Ursprungswort nur noch mit seinem Anfangsbuchstaben ausgesprochen werden darf.

Bei Christa Wolf fiel mir auf, was ich fast schon wieder vergessen hatte, daß es auch im Umgang zwischen Ost- und Westdeutschland solche sprachlichen Strukturen gibt, aus denen wie aus einem Myzel Pilzwörter aufpoppen, ,Beitrittsgebiet‛, ,Jammerossi‛, ,Provinz‛, ,Buschzulage‛, ,Evaluation‛, ,Kommandowirtschaft‛; Pilzwörter, die die strukturelle Diskriminierung explizit machen: „Da helfen nur noch mühsame, schmerzhafte, oft verletzende Sprachübungen in kleineren und größeren Kreisen, aus denen wir alle vielleicht verändert herauskommen.“ (Wolf 1994, S.57)

Interessant ist, daß Christa Wolf diese Sprachübungen „schmerzhaft“ nennt. Political correctness ist wie eine Operation am lebendigen, schmerzempfindlichen Leib. Und dabei hatte Wolf bei all ihrem politisch wachen Bewußtsein für die Notwendigkeit ihrer schriftstellerischen Arbeit am geschriebenen und gesprochenen Wort noch nichts von der Genderakrobatik von heute geahnt.

Ich verstehe die Notwendigkeit, die Sprache zu reformieren. Das ist die tägliche Arbeit unserer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Auch ich empfinde mein Schreiben als Arbeit am Wort. Aber diese Sprache ist auch die Sprache, die ich täglich spreche. Und ich spreche sie, weil ich denke und fühle. Ich spreche, wie ich die Luft ein- und ausatme.

Es ist wie mit den zahlreichen gescheiterten Reformen unseres Bildungssystems. Da werden nicht einfach nur irgendwelche Institutionen reformiert, wie etwa Verwaltungsstrukturen, oder Gebäude instandgesetzt, wie ein Schulgebäude, was sowieso selbstverständlich und notwendig ist. Bei den ständig scheiternden Bildungsreformversuchen experimentieren wir vielmehr mit unseren Kindern! Und was die Kinder betrifft, sind nur die Experimente ethisch zu rechtfertigen, die ihnen unmittelbar nützen und nicht erst Jahre später, wenn sie erwachsen sind; also wenn es zu spät ist.

So empfinde ich für die Sprache, meine Sprache: wo ich keine Wörter mehr habe, die ich unmittelbar in Gespräche einbringen kann, muß ich verstummen. Da nutzt es weder mir noch meinen Gesprächspartnern etwas, daß ich beim Versuch, die politisch korrekten Wörter zu finden, ins Stammeln und Stottern gerate. Wo mir sowieso schon die freie Rede schwerfällt und ich lieber Texte schreibe.

Für mich ist ChatGPT jedenfalls nicht entwickelt worden. Ich hätte gut darauf verzichten können. Tatsächlich fühle ich mich gekränkt von dieser Technologie. Eine tiefe, verletzende Kränkung. Tatsächlich empfinde ich die allgemeine Wertschätzung der KI als eine persönliche Diskriminierung. Als eine Geringschätzung der menschlichen Fähigkeit zu denken.

Persönlichkeitsstrukturen sind ein Mix aus im einzelnen Menschen inkarnierten gesellschaftlichen Konventionen und individuellen Gewohnheiten. Plessner würde das „Körperleib“ nennen, aber es fehlt dem auf der Grenze zwischen Innen und Außen schwankenden Selbst die Neutralität. Im Gegenteil sind unsere Sprech- und Lebensgewohnheiten mit Wertungen aufgeladen, denen wir in unseren Interaktionen nicht entkommen können. Alles das läßt sich zusammenfassen in dem Wort ,Infrastruktur‛. Es umfaßt das volle Gewaltpotenzial aller zur Infrastruktur gehörenden Einrichtungen bis hin zur Digitalisierung aller Lebensbereiche und bis hin zum täglichen Straßenverkehr, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, sobald wir die Wohnung verlassen und einen Fuß auf die Straße setzen. Überall wird diskriminiert. Nicht nur in der Sprache. Die Infrastruktur zerstört nicht nur Landschaften, sondern auch Möglichkeiten, anders zu leben, anders zu sein als die anderen. Anders als die, die dazugehören im Unterschied zu allen, die draußen bleiben, die Unbehausten und Wohnungslosen.

Diese Infrastruktur ist unsere Menschenwelt, aber zugleich ist sie ununterscheidbar von der Naturwelt geworden. Die Diskriminierung ist also naturförmig geworden. Vielleicht ist es das, was unsere Empörungsbereitschaft ins Grenzenlose steigert? Ist die Diskriminierungserfahrung also auch eine den endlos fortschreitenden technologischen Innovationen geschuldete Grundbefindlichkeit des heutigen Menschen?

Diskriminierung ist überall, und nirgends ist sie gerechtfertigt. Dennoch arbeiten wir weiterhin fleißig daran, diese Diskriminierungen nicht nur nicht abzuschaffen, sondern auch noch auszubauen. Inzwischen diskriminieren wir sogar Menschen, die noch gar nicht leben, weil wir ihre künftigen Lebensgrundlagen zerstören, um es uns auf verquere Weise ,gut‛ gehen zu lassen. Weil wir, die wir uns selbst überall diskriminiert fühlen, wie die Autofahrer im von Aktivisten der Letzten Generation verursachten Stau, schadlos halten wollen an unserem Anteil von einem Kuchen, von dem nur noch Krümel übrig sind. Ein Kuchen, den wir nicht neu backen können.

Es gibt keine Rangordnung der Diskriminierung. Wir alle sind diskriminiert, weil wir uns diskriminiert fühlen. Ungerecht behandelt. Von unseren Mitmenschen.

Dafür gehen wir auf die Barrikaden. Dafür finden sich die Wissings und Lindners dieser Welt, um ein paar Wählerstimmen zu fischen, mit denen sie es vielleicht noch mal knapp über die fünf Prozent schaffen.

Ich habe gerade wiedermal ein Lied von Rio Reiser gehört. Darin heißt es: „Du sagst, Du willst die Welt nicht ändern!“ ‒ Und Reiser fragt: „Wie schaffst Du das bloß?“ ‒ Und dann singt er den Vers: „Mit jedem Bissen, den Du ißt, ist die Welt eine andre als zuvor!“

Wie das? Wie kann ein Bissen die Welt ändern? ‒ Dieser Vers macht nur dann einen Sinn, wenn man versteht, daß jede und jeder von uns auch ein Teil der Welt ist. So kann ein Bissen, der unsere Lebenskraft erhält und stärkt, auch die Welt erhalten und stärken.

Das funktioniert natürlich nur, wenn jede und jeder einzelne sich ihrer und seiner Verantwortung für diese Welt bewußt ist. Ansonsten stärkt zwar jeder Bissen unsere Lebenskraft, schwächt aber zugleich die Welt.

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