„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Januar 2022

Zum Neujahr: Aus der Zeit gefallen

Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Spahn gebrauchte das Bild von einer Uhr, die die abgelaufene Zeit anzeigt: es ist bereits halb eins; also nicht mal mehr 5 vor zwölf.

In diesem Blog habe ich mich in Prä-Corona-Zeiten gerne als „Anachronisten“ bezeichnet; als jemanden, der aus seiner Zeit, aus seiner Lebenswelt herausgefallen ist und jetzt nirgendwo mehr hingehört. Nach zwei Coronajahren habe ich den Eindruck, daß wir alle zu Anachronisten geworden sind. Corona hat uns alle aus der Zeit herausgerissen; sogar die, die noch krampfhaft an ihr festzuhalten versuchen und von einer Zeit faseln, in der wieder alles so sein wird wie früher. Wenn Corona vorbei ist.

Inzwischen haben wir eine neue Bundesregierung, und sie selbst hat bereits angekündigt, daß die Überwindung der Corona-Krise in der nächsten Zeit Vorrang vor den anderen wichtigen Aufgaben haben wird, die sie sich im Koalitionsvertrag gestellt hat. Läuft also Corona dem Klimawandel den Rang ab? Aber: haben Corona und Klimawandel nicht eher einiges gemeinsam?

Bei beidem handelt es sich um Kollateralschäden der Globalisierung. Und bei beidem sind die Schutzmaßnahmen, gegen Corona wie gegen den Klimawandel, längst bekannt: zum einen Impfen, zum anderen CO2 reduzieren. In beiden Fällen ist sich die Wissenschaft darin einig. Trotzdem polarisiert beides die Gesellschaft.

Letztlich exekutieren Corona und Klimawandel die Tatsache, daß wir die Generation sind, die die Verbindung zu den uns nachfolgenden Generationen gekappt hat, weil sie verzweifelt am Weiter-so festhält. Nichts wollen wir lieber glauben, als daß wir, wenn Corona vorbei ist, unser altes Leben wieder aufnehmen und weiterführen können; ohne Rücksicht auf die, die nach uns kommen. Als hätten wir alle noch so viel Zeit. Welle für Welle, Wellental für Wellental: sobald es irgend geht, strömen wir wieder in die Fußballstadien und reisen um die Welt, nur um anschließend, wieder zu Hause, in Quarantäne geschickt zu werden. 

Aber unsere Zeit ist vorbei. Wir sind keine Zeitgenossen mehr. Die Zeit, die uns vermeintlich noch geblieben ist, ist zusammen mit den Coronawellen über uns hinweggeschwappt. Und mit den zurückweichenden Wellen ist auch sie uns abgelaufen.

Daß es uns noch gibt, ist ein Anachronismus.

2 Kommentare:

  1. Ich freue mich, dass du weiter in deinem blog schreibst - weiter so - oder wie einer meiner Lehrer sagte: Und so weiter, und so weiter.
    Dieses "weiter so" ist durchaus mehrdeutig zu verstehen. Als ein Weg ins die Weite z.B. und in jedem Fall ist es niemals ein "wie bisher", denn die Dinge und Umstände verändern sich in kleinen Schritten und sind zunächst unbemerkt, bis man dann erkennt - diese "So" ist nicht dasselbe, wie es mal war. Und so werden wir unweigerlich eines Tages aus dem Geschehen entfernt - und haben den Raum zu verlassen. Und wenn man es gut mit der nächsten Generation meint, dann macht man schon gleich Platz und lässt die Jüngeren machen.
    In diesem Sinn, suchen wir das Weite.

    LG
    Aiko

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  2. Ins Weite und ins Offene.
    Liebe Grüße zurück,
    Detlef

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