„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 28. Juli 2022

Weltsprache Kunst: Gestaltwahrnehmung und Informationsverarbeitung

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

Was ich aus der Lektüre von „Weltsprache Kunst“ lerne, ist, daß der Begriff der Gestaltwahrnehmung eine ganz andere Geschichte hat als es meinem Verständnis von ihr entspricht. Cs/iee heben vor allem abstrakte „Gestaltwerte“ hervor und sprechen von den „Formeln der Gestaltwahrnehmung“, von „Struktur“, „Gesetz“ und „Geometrie“. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.333) Sie verbinden den Begriff der Gestaltwahrnehmung mit dem Begriff der Informationsverarbeitung. Das entspricht dem methodischen Ansatz der Gestaltpsychologie, die Ende des 19., Anfang des 20. Jhdts. dem naturwissenschaftlichen Anspruch auf mathematische Berechenbarkeit genügen wollte.

Ich hingegen stelle den Begriff der „Gestalt“ in eine Reihe mit „Sinn“ und „Bedeutung“, also mit dem Verstehen von Texten. Gestaltwahrnehmung ist immer auch Sinnverstehen und Sinnstiftung. Es geht um Vordergrund und Hintergrund als um ein intersubjektiv geteiltes, weltliches Ganzes mit Horizonten, die von keiner Informationsverarbeitung erfaßt werden können. 

Wenn cs/iee von Gestaltwerten sprechen, zerschlagen sie das Ganze der Welt in Splitter und Atome. Die Welt verliert ihre perspektivische Tiefe und wird zu einem flachen Mechanismus. Das ist nicht einfach eine „andere Ebene“, wie cs/iee schreiben (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.333), sondern impliziert gleichzeitig ein Desinteresse am und den Abschied vom Menschen. Das ist kein Vorwurf, den ich gegen cs/iee erhebe, denn die beiden interessieren sich sehr gerade für den Menschen in der Kunst. Aber es ist ein Vorwurf, den ich gegen das Informationsverarbeitungskonzept erhebe.

Wenn es Christa Sütterlin nach eigener Aussage mit der Kunst um das „Wesen ‚hinter‘ der sichtbaren Erscheinung“ geht (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.100), läuft es letztlich auf eine Gestaltwahrnehmung hinaus, wie ich sie verstehe: also Wesen = Gestalt. Wenn Sütterlin aber mit Verweis auf Pythagoras vom „Gleichbleibenden im Wechsel“ spricht, dann übergeht sie die Bewußtseinsleistung, die diese sich durchhaltende Gestaltwahrnehmung ermöglicht, indem sie sie als eine „Proportion“ definiert, deren „Maß“ sich, wie in der Musik, in Zahlenverhältnissen („Ordnung der Zahlen“) ausdrücken läßt. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.102)

Letztlich geht es hier nicht nur um Pythagoras. Es geht auch um die Vorstellung, man könne die Gestaltwahrnehmung als eine gleichermaßen berechenbare wie rechnerische Größe verstehen und so als eine Form der Informationsverarbeitung modellieren. Auch hier werden Qualitäten quantifiziert, d.h. in Zahlenverhältnisse verwandelt. So weit ist Pythagoras von heutigen Vorstellungen gar nicht entfernt. Immer schon lösen Zahlenverhältnisse Gestaltqualitäten vom Körper, den es nur als nicht zählbare Singularität gibt, ab und verwandeln sie in eine unendliche Spiegelung („Harmonie“), in der alles einander gleich ist: „Schönheit geht also schon sehr bald weg vom Einzelphänomen und der äußeren Hülle (wie etwa Glanz, Farbe, Glätte, Größe etc.) zu einem Strukturbegriff, der in das Äußere erst integriert werden muss.“ (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.102)

Wesen, Harmonie, Struktur, Ordnung, Zahlen: das alles sind Begriffe, die das „Einzelphänomen“ hinter sich lassen und sich nur noch in sich selber spiegeln. Ich halte dem entgegen, daß die Gestalt in erster Linie individuell ist, so wie der Körper singulär ist, den wir an seiner Gestalt erkennen. Dieser Wiedererkennungswert bezieht sich vor allem auf seine zeitliche Erstreckung; auf seine verschiedenen, einander nachfolgenden Erscheinungen, in denen wir ihn immer als diesen besonderen Körper wiedererkennen können. Bis dahin, wo die Jungen in den Alten kenntlich bleiben.

Auch die Statistik, gleichfalls eine „Ordnung in Zahlen“, funktioniert nur dort, wo die Einzelphänomene, die singulären Körper, in eine Gesamtqualität überführt werden, wie etwa das Durchschnittsgesicht, auf das cs/iee verweisen, um der schönen Gestalt auf die Spur zu kommen. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.179)

Zurück zum Textverstehen. Daß das Lesen eines Satzes bzw. Textes etwas mit Gestaltwahrnehmung zu tun hat, kommt in folgendem Zitat aus „Weltsprache Kunst“ zum Ausdruck: „Das Ganze wird stärker als seine Teile wahrgenommen, das Subjekt stärker als das Prädikat ().“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.169) – Mit Subjekt und Prädikat sind Sätze gemeint, in denen Dingen und Themen, den ‚Subjekten‘, Eigenschaften und Inhalte, also ‚Prädikate‘ zugeordnet werden. Diese Prädikate verhalten sich zu den Subjekten, wie in der Gestaltwahrnehmung die Teile zu einem Ganzen. Aber das Prädikat ist nicht einfach nur Teil eines Ganzen, also eines Subjekts. Das Subjekt ist auch der Hintergrund, aus dem das Prädikat einen Aspekt als Vordergrund heraushebt. Wir haben es deshalb auch mit einer Vordergrund/Hintergrund- bzw. Figur/Grund-Relation zu tun. Teil/Ganzes, Figur/Grund, Subjekt/Prädikat bezeichnen ähnliche Relationen in der Gestaltwahrnehmung und im Textverstehen.

Wie cs/iee schreiben, ist der Mensch regelrecht süchtig nach Bedeutung. Der Mensch, so cs/iee, „bewertet alles, und zwar prinzipiell. Es gibt kaum eine Empfindung, die subjektiv wertfrei ist.“ – Und: „Wir sind ständig auf der Suche nach Interpretierbarem, nach Dingen, die für uns etwas bedeuten, so wie wir auf der Suche nach Ordnungen sind.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.183)

In der Wahrnehmung ergänzen wir deshalb unvollständige Wahrnehmungen zu einem Gestaltganzen, das wir eigentlich gar nicht sehen. Zahlreiche optische Täuschungen haben hier ihren Grund. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.164f.) Diese Ergänzungssucht kennen wir auch aus dem Bereich des Textverstehens. Autorinnen und Autoren spielen geradezu mit der Neigung von Leserinnen und Lesern, unvollständige Darstellungen zu ergänzen. Darauf basiert das literarische Stilmittel der „Ellipse“. Diese Ergänzungssucht, wie wir sie Ellipsen (Auslassungen im Text) gegenüber empfinden, bringen cs/iee folgendermaßen zum Ausdruck: „Unsere Augen wollen etwas sehen und mit dem Gesehenen gedanklich spielen. Und unser Ordnungssinn der Wahrnehmung hat Appetit, Ordnung zu erkennen und sucht nach ihr.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.170)

Auch hier haben wir also eine Gemeinsamkeit zwischen Textverstehen und Gestaltwahrnehmung. Daraus erwächst übrigens ein verbreiteter Mißbrauch durch Demagogen und Populisten, die dieses Bedürfnis skrupellos ausbeuten, weil sie darauf vertrauen, daß ihre Halbwahrheiten und die absichtlich unvollständigen Informationen, mit denen sie öffentlich auftreten, von dem Publikum unbewußt so ergänzt werden, daß sie ‚Sinn‘ machen. Das Publikum ‚denkt‘ mit; nämlich indem es durch spontanes Sinnverstehen die demagogische Botschaft vervollständigt. Diese Art, das Publikum mit-‚denken‘ zu lassen, ist für den Demagogen effektiver, als es selbst zu sagen. Und auch sicherer. Man kann ihn nicht für das verantwortlich machen, was die Leute verstanden haben.

Denken ist also eine Form der Gestaltwahrnehmung. Aber an dieser Stelle ist die Verführung groß, zur Erklärung dieses Zusammenhangs auf Mechanismen der Informationsverarbeitung zurückzugreifen: „Beim internalisierten Spiel mit unseren Engrammen – den bewußten wie unbewussten Denkprozessen – kommt es zu plötzlichen Erleuchtungen, einem ‚intuitiven‘ Erfassen von Zusammenhängen. ‚Offensichtlich besitzen wir einen Verrechnungsapparat, der imstande ist, schier unglaubliche Zahlen einzelner ‚Beobachtungsprotokolle‘ aufzunehmen und über lange Zeiträume festzuhalten, und der dazu noch die Fähigkeit besitzt, echte Statistik zu treiben. Diese beiden Leistungen müssen angenommen werden, um die unbezweifelbare Tatsache zu erklären, dass unsere Gestaltwahrnehmung fähig ist, aus einer Vielzahl von Einzelbildern, deren jedes mehr akzidentelle als essenzielle Daten enthält, und die sie über große Zeiträume gesammelt hat, als essenzielle Invarianz zu errechnen.‘()“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.179f.; mit einem Zitat von Konrad Lorenz aus „Die Rückseite des Spiegels“)

Unter Rückgriff auf die eingangs erwähnte Gestaltpsychologie (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.115ff.) wird nun das Auge zum „datenverbeitende(n) System“ – hier hat insbesondere der Biologe des Autorenpaars seine Expertise –, das ‚aktiv‘ „Nachrichten aus ihrer Überlagerung durch Störsignale“ (Figur/Grund-Relation) hervorhebt (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.117); und überhaupt haben wir es bei der Gestaltwahrnehmung mit Vorgängen zu tun, die nach dem Modell „nachrichtentechnischer Abläufe (das heißt computergesteuert)“ verlaufen (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.118). – Kritisch fügen cs/iee hinzu: „Das Sehen war seiner semantischen Kompetenz zur Symbolbildung beraubt.“ (Vgl. ebenda) Das hindert sie aber nicht daran, am Informationsverarbeitungsmodell festzuhalten.

Auch weiterhin ist von den „internen Regelkreise(n) und Muster(n)“ des Auges beim Sehen die Rede (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.202) und wird darauf verwiesen, wie die „Datenverarbeitung ... bereits in der Netzhaut (beginnt)“ (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.163). Noch im Schlußteil des Buches darf nicht der Hinweis auf die „Hirnchemie“ vergessen werden, denn „Schönheit kann wie ein Dopingmittel wirken, das blind macht, verführt und die Falschen einbindet“. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.495) So ist auch hier nochmal der naturwissenschaftlichen Expertise des Biologen Genüge getan; wenn ich mich auch als Leser wiedermal frage, was diese Bemerkung zum Thema eigentlich an wirklich Wissenswertem beizutragen hat.

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