„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Der Körper und seine Physiologie werden in den Neurowissenschaften gerne bloß als „Nährboden“ für das Gehirn dargestellt, das angeblich hinsichtlich all seiner wesentlichen Funktionen autark sein soll. So ist z.B. Adrian Owen (2017) davon überzeugt, daß bei einer Gehirntransplantation die Persönlichkeit eines Menschen im fremden Körper völlig unverändert bliebe. (Vgl. meinen Blogpost vom 01.03.2018) Damasio sieht das ganz anders:
„Die Werte, die unsere Kultur in Form von Kunst, Religion, Justiz und gerechter Staatsführung feiert, wurden auf der Grundlage von Gefühlen geformt. Würden wir den derzeitigen chemischen Nährboden für Leiden und sein Gegenteil – Freude und Gedeihen – beseitigen, beseitigen wir damit auch die natürliche Grundlage für unsere derzeitigen Moralsysteme.“ (Damasio 2017, S.231)
Ich denke man kann Damasios auf die kulturelle Evolution bezogene Feststellung ohne weiteres auch auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit eines Menschen beziehen.

Eng mit der verbreiteten neurowissenschaftlichen Mißachtung des Körpers zusammen hängt der Fokus auf Codes und Algorithmen, mit denen die Neurowissenschaftler das Funktionieren eines Gehirns zu beschreiben versuchen. Die derzeit beliebteste Metapher zur Beschreibung eines Gehirns ist der Computer. (Vgl. Damasio 2017, S.78, 227, 291) Dazu bemerkt Damasio:
„Interessanterweise eignen sich rein intellektuelle Abläufe gut für eine Beschreibung mit Algorithmen, und vom Nährboden sind sie anscheinend nicht abhängig. Das ist der Grund, warum gut ausgedachte KI-Programme in der Lage sind, Schachgroßmeister zu schlagen, im Go-Spiel hervorragende Leistungen zu erbringen und Autos zu fahren.“ (Damasio 2017, S.230)
Für intellektuelle Prozesse eignen sich Algorithmen Damasio zufolge deshalb so gut, weil diese Prozesse im Unterschied zu Gefühlen tatsächlich substratunabhängig sind, also unabhängig von einem spezifischen, unaustauschbaren ‚Nährboden‘. An dem Gedanken, daß dies auch für den menschlichen Organismus so gelten könnte, „berauschen sich“, schreibt Damasio, „die Welten der künstlichen Intelligenz, der Biologie und sogar der Neurowissenschaft“. (Vgl. Damasio 2017, S.229)

Damasio führt drei Gründe dafür an, daß sich dieser Mainstream irrt. Auf den ersten Grund, die „Phänomenologie des Gefühls“ (Damasio 2017, S.229), werde ich im folgenden Blogpost eingehen. Im Kern geht es dabei darum, daß Gefühle im Unterschied zu Algorithmen substratabhängig sind. Der zweite Grund besteht darin, daß Algorithmen nicht flexibel genug sind: wenn die Ausführungsbedingungen gegeben sind, müssen sie zur Anwendung kommen. Der Mensch hingegen hat immer die Freiheit, sich anders zu entscheiden:
„Selbst wenn wir alle Vorsicht in den Wind schlagen und das menschliche Gehirn freigebig zum ‚Algorithmus‘ erklären, sind die Dinge, die Menschen tun, keine Algorithmen, und wir sind nicht zwangsläufig vorhersagbar.“ (Damasio 2017, S.233)
Der dritte Grund besteht Damasio zufolge darin, daß eine reduktionistische Position keine ästhetische Sensibilität und keine Humanität zuläßt. Sie verletzt die Würde des Menschen:
„Wenn man Erklärungen für das Menschsein findet, die scheinbar die Würde des Menschen mindern, bringt man die Sache des Menschen auch dann nicht voran, wenn man die Würde gar nicht mindern will.“ (Damasio 2017, S.233)
Damasio ist, wenn ich das hier mal in dieser zugespitzten Form sagen darf, wohl der einzige Neurowissenschaftler, der mit der Würde des Menschen argumentiert!

Damasio lehnt allerdings den Begriff des Algorithmusses für biologische und kulturelle Prozesse nicht generell ab. Als Beispiele führt er den genetischen Code und die menschliche Sprache an:
„Der genetische Code sorgt mit seinem Alphabet der Nucleinsäuren dafür, dass Lebewesen auf der Grundlage anderer Lebewesen zusammengesetzt werden können, und steuert ihre Entwicklung; verbale Sprachen liefern uns ein Alphabet, mit dem wir unendlich viele Wörter zusammensetzen und damit unendlich viele Gegenstände, Tätigkeiten, Beziehungen und Ergebnisse benennen können, wobei die Regeln der Grammatik über die Reihenfolge der Wörter bestimmen.“ (Damasio 2017, S.227f.)
Was die verbale Sprache betrifft, sieht Damasio ihre wesentliche Leistung darin, daß die ‚Bilder‘ – auf den Begriff des Bildes werde ich im folgenden Blogpost noch einmal extra eingehen – aus dem Inneren des Organismusses für andere Menschen kommunizierbar gemacht werden. Wir haben es mit einer Übersetzungsleistung zu tun, bei der Bilder, gemeint sind hier Gefühle, in Wörter und Sätze übertragen werden. (Damasio 2017, S.107) Damasio geht weder an dieser Stelle noch an einer anderen Stelle in seinem Buch darauf ein, was bei dieser Übersetzungsleistung verloren geht, also auf die Differenz von Sagen und Meinen. Wenn nämlich der „verbale Code“ tatsächlich einen Algorithmus bilden würde, dann bestände das Verhältnis zwischen Bildern/Gefühlen und der verbalen Sprache in einem 1:1-Verhältnis. Die Wörter wären eineindeutig definiert, was man von Gefühlen wohl nicht so einfach behaupten kann.

Bei aller Anerkennung des philosophischen Hintergrunds von Damasio – philosophisch begründet Damasio sein Konzept mit dem Panpsychismus von Spinoza (Vgl. Damasio 2017, S.47f.) – bleibt doch festzuhalten, daß Damasio hier die eigentliche Bedeutung der individuellen Entwicklungslinie ein weiteres Mal verfehlt.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen